Eine Welt, die nicht die meine ist

Irgendwann ist das erste Mal. Als begeisterter Konzert- und Festivalgänger habe ich 2019 meine Premiere am Schlager-Open-Air in Flumserberg gefeiert. Dabei ist Schlager die einzige Musik, die ich nicht mag. Es kam, wie es kommen musste – nicht wirklich gut.

von Hans Bärtsch (Text und Bilder)

Bungee-Jumping, Insekten essen, Canyoning in engen, unerforschten Schluchten, eine giftige Schlange in die Hände nehmen, mit dem Bike einen wilden Downhill-Trail hinunterrasen, ein Auftritt in einer Karaoke-Bar: Es gibt unzählige Herausforderungen, denen man sich in unserer Spassgesellschaft stellen kann. Ein gewisser Nervenkitzel verleiht dem Leben Würze. Die Herausforderungen sind für jedermann und -frau andere. Für den einen ist die Besteigung des Pizols ein Klacks, für die andere (wegen Höhenangst) ein Horror. 

Fit und ohne Höhenangst 

Im Redaktionsalltag beim «Sarganserländer» ist die richtige Arbeitszuteilung ein Dauerthema. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen grundsätzlich zwar alle Aufgaben übernehmen können. Aber man schaut, wo deren Stärken sind. Und eben auch Schwächen. Um beim Beispiel Pizol zu bleiben: Der oder die Schwindelfreie wird für eine allfällige Berichterstattung dorthin geschickt und nicht eine Person mit Höhenangst und fehlender Fitness.

Schwupps, sitzt eine Juzi-Brille auf dem Kopf: Ohne solche Accessoires kein richtiger Schlager-Fan.

Das Schlager-Festival vom 31. Juli in Flumserberg ist seit Jahren ein gesetztes Datum für unseren Chefredaktor und einen freien Mitarbeiter als Fotografen. Dass plötzlich mein Name ins Spiel kam, hatte mit einer Aufgabe für die Kolleginnen und Kollegen zu tun, von der man weiss, dass diese ihnen nicht besonders liegt. «Pflichtaufgabe» heisst die Herausforderung folgerichtig. Irgendwann, irgendwie musste auf der Redaktion durchgesickert sein, dass ich zwar geradezu fanatisch Musik höre und Konzerte besuche, wobei es für mich von freiem Jazz bis urtümliche Volksmusik, von Progrock bis kolumbianischen Cumbia, von Neo-Klassik bis Reggae, Blues, Americana, Soul, Elektro-Pop und Indie-Rock stilistisch kaum Grenzen gibt. Die grosse Ausnahme: Schlager. Dieses Heile-Welt-Gesülze ist mir richtiggehend zuwider. Mit Schlager werde ich journalistisch nie zu tun haben, dachte ich immer, da andere sich darum reissen. Bis ich von meiner Straf-, Pardon: Pflichtaufgabe vernahm. 

Dirndl und Lederhosen 

Nun denn, auf in den Kampf. Das Ticket ist besorgt, die Aufgabe bewusst nur sehr vage umrissen. «Luegsch emol…» wurde mir hoffnungsvoll auf den Weg mitgegeben, verbunden mit den tröstenden Worten, dass es sicher nicht so schlimm sein werde. Denkste! Bereits beim Warten aufs Postauto frage ich mich, ob parallel zum Schlager-Festival irgendwo in der Region auch noch ein verfrühtes Oktoberfest stattfindet. Spätestens in Flums merke ich, dass man offenbar verkleidet ans Schlager-Open-Air geht, mit Dirndl und Lederhosen, einer roten Zipfelmütze vom letzten Juzi-Konzert oder im Minimum einer knalligen Sonnenbrille. Nicht ganz zu den Outfits passen die klobigen Wanderschuhe für den Fall, dass es regnen und matschig werden sollte.

Fototermin mit Stefan Roos: Chefredaktor Reto Vincenz und Freundin Claudia in Festlaune.

Auf dem Berg dann ist alles sehr vertraut mit einer Infrastruktur, wie man sie von zig andern Festivals kennt: Bühne, Foodstände, Toi-Toi-Anlagen, freundliche, aber bestimmte Security, VIP-Bereich. Dass die ersten Besucher schon am frühen Nachmittag mit einer gewissen Schräglage unterwegs sind, kann eigentlich nur eines bedeuten: Auch das sind keine Schlagerfans, die trinken sich den Anlass jetzt einfach schön, weil sie lebensabschnittspartnerbedingt mitmussten. Bekannte, die hier mitlesen und deren Namen ich deshalb nicht verraten darf, meinen, nur «mit voller Lampe» halte man die Musik hier aus und erlebe dafür ein Riesenfest. Dass ich als Teil der Aufgabe auf Alkohol verzichten sollte, sei an dieser Stelle auch noch erwähnt. Es erleichterte meine Aufgabe nicht gerade. 

Cohen und Joplin gecovert 

Nach zehn Minuten auf dem Festivalgelände ist klar – das geht sogar gar nicht. Denn was da im Halbstundentakt von der Bühne kommt, ist für meine Ohren eine regelrechte Tortur. Der Tiefpunkt ist erreicht, als ein Akteur sich an Songs zweier meiner Lieblingskünstler vergeht: Leonard Cohen und Janis Joplin. «Hallelujah» und «Piece Of My Heart» werden regelrecht gemeuchelt. Das kann doch nicht sein, geht unablässig durch meinen Kopf, nunmehr sehr empfänglich für Bier, das fliesst wie bei einem Oktoberfest. Was danach kam, weiss ich nicht mehr so genau, denn plötzlich habe ich eine Juzi-Sonnenbrille auf dem Kopf, Bekanntschaft mit völlig Unbekannten geschlossen, Fotos mit Stefan Roos geschossen, eine Einladung zu einer Kuschelnacht im Schlafsack erhalten. Wir haben es lustig, ein Spruch folgt dem anderen. «Gsehsch, eso laufts!» meint mein Chef. Und: «Jetzt bisch voll derbi!» Im Halbstundentakt wechselt derweil auf der Bühne das Mikrofon die Hände. Unablässig wird an die Hände des Publikums appelliert – man solle doch bitteschön mitklatschen, -wippen und -singen – eins, zwei, hossa. 

Singende Vögel, was für eine Wohltat 

Irgendwann meldet sich der Hunger und der Gwunder, wie sich das Festival von oben, sprich von ausserhalb der Abschrankungen her präsentiert. Wie von einem Magneten angezogen zieht es mich, mit einer feinen Cervelat in der Hand, immer weiter den Hang hinauf, bis ich auf dem Weg zum Seebenalpsee bin. Mit jedem Schritt verliert sich die Musik weiter, bis gar nichts mehr zu hören ist als singende Vögel, die Glocken von Kühen und der Wind in den Bäumen. Was für eine Wohltat. Ich verlangsame meinen Gang, um den Walensee weit unten zu geniessen und die Sonne, die sich zum Tagesende doch noch zeigt. Wieder zurück auf dem Festivalgelände kommts zu einen Schwatz hier und dort, zaghaften, aber vergeblichen Versuchen, erneut ins fasnachtsähnliche Geschehen einzutauchen. Doch es ist klar, hier habe ich nichts (mehr) verloren. Es ist einfach nicht meine Welt. Wann die nächste Fahrt nach Sargans gehe, will ich vom Disponenten der Postautokurse wissen. Er schaut mich mitleidig an und denkt sich wohl: «Aha, da hat es einer zu steil angehen lassen und muss jetzt schon aufgeben.» Dabei will ich doch, inzwischen wieder topfnüchtern, nur nach Hause – einfach so schnell wie möglich.

Blick von aussen: 12’000 vergnügen sich am Schlager-Open-Air 2019 in Flumserberg.

Kleiner Nachtrag: Wie mein Chef in seinem Bericht richtig geschrieben hat, wars ein gelungener, friedlicher Anlass mit rund 12’000 glücklichen Besucherinnen und Besuchern. Dass mein subjektiver Erfahrungsbericht jemandem die Freude an Schlagermusik vergällt, glaube ich nicht. Denn: Jedem das seine. Das meine ich ganz ehrlich. Und ziehe die Schlussfolgerung, dass es möglicherweise doch nicht jede Herausforderung wert ist, angenommen zu werden.

BOX

Weil dieser Artikel viel – zumeist positives – Echo ausgelöst hat, sei er hier zum 1-Jahr-Jubiläum wiederholt. Es sei auch – Achtung: Sarkasmus! – eine kleine Träne vergossen, dass das Schlager-Open-Air 2020 in Flumserberg coronobedingt nicht stattfinden konnte. (hb)

Teil des ursprünglich vorgesehenen Programms 2020: Daraus wurde coronabedingt nichts.