Legenden, aber keine legendären Konzerte

Trotz grosser Stilvielfalt kommt am Montreux Jazz Festival auch einiges zu kurz: simpler Rock etwa. The Kills und Kasabian haben die Scharte ausgewetzt. Brian Wilson gab derweil ein Konzert für die Geschichtsbücher.

Von Hans Bärtsch

Es gibt Abende am Montreux Jazz Festival, da spürt man, die werden anders als andere. Am Montag beispielsweise strömen scharenweise junge, freiwillige Festival-Helferinnen und -Helfer in ihren Staff-T-Shirts ins Auditorium Stravinski, um zwei Bands zuzusehen, die das Haus in diesem Jahr zum ersten Mal so richtig rocken. Und bei denen offenbar auch der In-Faktor stimmt. Das britisch-amerikanische Duo The Kills – auf dieser Tour zum Quartett erweitert – gibt erstens optisch ordentlich was her. Sängerin Alison Mosshart würde auch auf dem Laufsteg eine gute Figur machen. Und Gitarrist Jamie Hince, als Ex von Kate Moss Model-erfahren, ist der ideale Sidekick. Wobei dieser Begriff untertrieben ist, wenn man, zweitens, die akustische Seite von The Kills anschaut. Die Gitarre ist das Epizentrum des musikalischen Sturms, der sich hier entlädt. Schmutziger Garagenrock, roh und reduziert, trifft auf eine Stimme, die durch Mark und Bein geht.

Wie bloss würden sich nach diesem Adrenalinschub Kasabian schlagen als zweite Band des Abends? Die Briten mit den schrecklichsten Frisuren und Outfits seit Oasis tun, was sie können. Und treiben die Party mit Dance-Elementen zu einem zweiten Höhepunkt. Man glaubt, die Madchester-Bewegung rund um Bands wie Happy Mondays, Stone Roses oder The Charlatans sei wieder auferstanden. Das erklärte Ziel von Gitarrist Sergio Pizzorno lautet ja auch nicht gerade bescheiden: «Wir wollen den Rock’n’Roll retten.» Was die Songs anbelangt, gibts auch nach sechs Alben noch Luft nach oben. Aber in Sachen Energie sind Kasabian mit ihren Livekonzerten voll auf Rettungskurs. Mehr harten Rock, verbunden mit einem noch höheren In-Faktor gabs im Übrigen gestern Abend mit dem famosen Duo Royal Blood.

Müder Dandy

Rückblende auf Sonntag, als es im Stravinski-Saal deutlich betulicher zu und her geht. Angekündigt sind zwei Legenden, beide jenseits der 70. Bryan Ferry ist noch immer der gutaussehende Dandy, der er schon zu Zeiten von Roxy Music war. Aber entweder fehlt ihm die Lust oder die Kraft. Der müde wirkende Sänger wird, zumeist am Piano sitzend, von einer äusserst agilen, spielfreudigen Band getragen. Zum Glück, die Freude an Roxy-Music-Klassikern und Werken aus Ferrys diversen Soloalben wäre sonst arg getrübt worden.

Bryan Ferry fehlt die Lust oder die Kraft. Immerhin: Der müde wirkende Sänger wird von einer spielfreudigen Band getragen.

Die Begleitband ist es auch, die den Auftritt von Brian Wilson ausmacht, des genialen Kopfes der Beach Boys. Auf dem Programm steht die integrale Präsentation von Wilsons Meisterwerk «Pet Sounds». Ein Album, rund 37 Minuten kurz, das den Beatles kompositorisch endgültig den Rang ablaufen sollte, zur Zeit der Erstehung wegen seiner Komplexität aber in erster Linie für Streit innerhalb der Band und mit der Plattenfirma sorgte. Und: Das Brian Wilson selber dermassen überforderte, dass er schwere psychische Probleme davontrug.

Trauriger Anblick

Es ist deshalb nicht weniger als ein Wunder, dass dieser Wilson sich derzeit auf Welttournee befindet und zum 50-Jahr-Jubiläum von «Pet Sounds» auch in Montreux Halt macht. Es ist gleichzeitig ein trauriger Anblick zu sehen, wie kraftlos der Maestro am Piano sitzt und die Texte vom Teleprompter abliest. Die gesanglichen Raffinessen in Songs wie «Sloop John B» oder «God Only Knows» stehen in umgekehrtem Verhältnis zu den heutigen stimmlichen Möglichkeiten Wilsons. Zum Glück, wie gesagt, stehen ihm hervorragende Musiker zur Seite. Unter anderem Al Jardine, ebenfalls ein Beach Boy der ersten Stunde, und dessen Sohn Matt Jardine.

Brian Wilson

Genialer Musiker, aber längst nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte: Brian Wilson (am Klavier), hier mit Beach-Boys-Mitbegründer Al Jardine am Montreux Jazz Festival 2017. (Bild Ueli Frey)

Der rührendste Moment ist eine ganz zum Schluss praktisch nur a-cappella wiedergegebene Version von «Love & Mercy» ab Wilsons erstem Soloalbum von 1988. Dies nach einem Hit-Medley aus der Beach-Boys-Küche, das nichts mit dem «Pet-Sounds»-Album zu tun hat. Aber mit einem 37-Minuten-Werk lässt sich schliesslich auch kein ganzes Konzert bestreiten. Jedenfalls: Der Abend mit Brian Wilson ist einer für die Geschichtsbücher des Montreux Jazz Festival, auch wenn er qualitativ nicht als legendär in Erinnerung bleiben wird.

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Blockchain – der neue Hoffnungsschimmer für die Musikbranche

20 Jahre M4Music: Das Branchen-Musikfestival ist erwachsen und etwas langweilig geworden – aber es hat sich auch unverzichtbar gemacht mit wichtigen Diskussionen. Im Jubiläumsjahr etwa zum Thema Blockchain.

von Hans Bärtsch

Tagsüber wird über Popmusik gelabert, nachts wird sie gespielt und ihr zugehört. Das ist das Prinzip des vom Migros-Kulturprozent M4Music getragenen Festivals. Bei jenen, die spielen, handelt es sich um Nachwuchskünstler mit Hauptfokus auf dem heimischen Schaffen. Bei jenen, die zuhören, zum wichtigen Teil um Profis aus der Musik- und anverwandten Kreativbranchen. Kurz: Das M4Music ist der Treffpunkt der Schweizer Szene, auch im 20. Jahr seines Bestehens. Da der erste Festivaltag jeweils in Lausanne stattfindet (und die folgenden beiden in Zürich), funktioniert auch der sprachregional übergreifende Austausch bestens.

Blockchain: Mehr als ein Hype?

Was weniger gut funktioniert, ist die Rettung des Business – das Dauerthema des Festivals, seit das Internet und damit verbunden die Gratiskultur fast irreversiblen Schaden angerichtet hat (die Verlagshäuser können ja ebenfalls ein Liedchen davon singen). Natürlich war Streaming auch dieses Jahr wieder ein Thema. Dass für Musiker damit kaum ein Butterbrot zu verdienen ist, ist inzwischen ja hinlänglich bekannt. Dass es anders gehen könnte – mit Betonung auf könnte –, zeigte eine Gesprächsrunde zum Thema Blockchain auf.

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Interessante Diskussion am M4Music zum Thema Blockchain, erläutert von Hannes Grassegger (zweiter von rechts). (Bild Hans Bärtsch)

Hannes Grassegger, ehemaliger «Südostschweiz»-Redaktor und jetziger Reporter für «Das Magazin» und «Reportagen», zeigte vom ökonomischen Standpunkt her auf, was die Chancen und Risiken dieser neuen Technologie sind. Die Ausgangslage: Durch das Internet ist die Selbstkontrolle der Rechteinhaber über ihr geistiges Eigentum verloren gegangen. Mit Blockchain, quasi der Mutter der Digitalwährung Bitcoin, bietet sich die Chance, die Kontrolle wieder zurückzuerlangen. Grassegger erklärte Blockchain mit einer «grossen Excel-Tabelle» beziehungsweise einem «offenen Kassa-/Kontobuch», wo alles notiert ist und worüber alle Transaktionen laufen – ohne Umwege zwischen dem Hersteller eines künstlerischen Werks und dem Konsumenten.

Direkter Transfer zwischen Künstler und Konsument

Simon Emanuel Schmid, Co-Gründer der Booking-Organisationsplattform Optune.me, sagte es mit einer Zahl: Beim Download eines Musiktitels beispielsweise bei iTunes zum Preis von 1.50 Franken gehen 60 Rappen an die Kreditkartenfirma. Es sind letztlich Brosamen, die direkt beim Künstler landen. Und genau hier setzt Blockchain an. Die Technologie ermöglicht den direkten Transfer zwischen Künstler und Konsument; Zwischenhändler sind ausgeschaltet. Der Zürcher Musiker Ephrem Lüchinger ist begeistert davon, «weil es die ganze Verwertungskette umkehrt». Höre ein Fan in Japan seine Musik, erhalte er das Geld dafür innert Minuten. Der Weg über die Rechteverwertungsgesellschaft Suisa dauere zweieinhalb Jahre und sei viel weniger lukrativ.

Blockchain ermöglicht den direkten Transfer zwischen Künstler und Konsument

Blockchain, in dessen Entwicklung die grössten Banken weltweit seit einigen Jahren Milliarden stecken, könnte also gerade im Musikbereich die Lösung für eine faire Entschädigungspraxis sein. Ein Knackpunkt ist die Nutzerakzeptanz. Bereits heute könn(t)en Zahlungen blitzschnell, fälschungssicher und ohne gebührenfressende Umwege (Kreditkarten) vorgenommen werden – bloss macht es noch fast niemand. Blockchain: Mehr als ein Hype? Wie vieles, was am M4Music diskutiert wird, muss man diese Fragen und die erst wenigen Antworten darauf in eine paar Jahren erneut auf den Prüfstand stellen.

Einer, der «gegen unten tritt»

Hochaktuell war ein Panel zum Thema Pop und Politik in der Gegenwart. Bewegt die «Trumpisierung», die seit geraumer Zeit stattfindet, auch die Schweizer Musikschaffenden? Zum Hauptthema wurde einer, der gar nicht auf dem Podium sass, nämlich Büezer-Rocker Gölä. Einer, der «gegen unten tritt», wie es der in Chur geborene Journalist, Buchautor und Musiker Daniel Ryser ausdrückte. Aber auch jene Künstler, die «gegen oben» austeilen, wurden kritisch hinterfragt, eine Madonna, eine Beyoncé, ein Kendrick Lamar. Soll Kunst überhaupt direkt reagieren auf gesellschaftliche, politische Vorgänge, wurde als Frage in den Raum gestellt.

Der junge Schweizer Rapper Nemo meinte: «Richtig machen kann man es nicht – man muss es nur machen.» Übersetzt: Ob man seine Fanbasis mit politischen Statements vergrault, ist durchaus möglich, aber nichts sagen ist keine Option. Ob der Legitimität von Heile-Welt-Musikern wie Trauffer oder Bligg wurde die Diskussion richtiggehend giftig. Auch ein Zeichen der Orientierungslosigkeit in unserer heutigen Welt.

Mario Batkovic als einsamer Höhepunkt

Nach der Theorie die Praxis. Ob Zufall oder nicht, standen am vergangenen Wochenende im Rahmen des M4Music gleich mehrere Schweizer Bands mit neuen Alben auf den diversen Bühnen im und um den Schiffbau in Zürich: Panda Lux, Baba Shrimps, Damian Lynn, Jeans for Jesus, die Bündner Band Ursina. Und weitere hoffnungsvolle Newcomer wie der Rheintaler Achtzigerjahre-Verehrer Crimer und der bereits erwähnte 17-jährige Bieler Nemo. Am handwerklichen Können fehlt es nirgends, dafür am einen oder andern Ort an Originalität. Der einsame Höhepunkt war der Auftritt des Berner Akkordeonisten Mario Batkovic im «Moods». Was das ehemalige Kummerbuben-Mitglied mit seinem Instrument anstellt, ist schlicht atemberaubend – und hat Potenzial für eine internationale Karriere, wie sie in seinem Fall gerade startet. Ebenfalls betörend der Auftritt von Baze – sehr sec, aber trotzdem mit viel Flow. Und mit einem Wutausfall vertrieb der Berner Rapper die ganze erste Reihe aus dem «Moods»; die Schnorris hatten es auch verdient.

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Junger Rapper: Nemo (17) zeigt am M4Music, was der Schweizer Nachwuchs draufhat. (Pressebild)

Die Schweizer Künstler fegten jedenfalls etliche internationale Grössen geradezu weg mit ihren energiegeladenen Shows. Der Auftritt der Filigran-Folkrocker The Shins aus den USA jedenfalls war soundtechnisch eine Katastrophe. Und Frank Turner mit seiner gepressten Stimme und dem fantasiearmen Gitarrengeschrummel schlicht zum Davonlaufen. Richtung den britischen Hip-Hop-Künstler Loyle Carner beispielsweise – wer eine Show mit einem Sample aus dem Musical «Hair» eröffnet, hat schon mal gewonnen. Das Gute liegt beim M4Music oft so nah.

BOX

6500 Besucher

Die Jubiläumsausgabe des M4Music-Festivals verzeichnete 6500 Besucher. Den mit 5000 Franken dotierten «Demo of the Year»-Preis gewannen Meimuna aus Choëx. Die Band erhielt ausserdem die an den Fondation-Suisa-Award gekoppelten 3000 Franken in der Kategorie Pop. In den anderen Kategorien wurden Verveine aus Vevey (Electronic), Dirty Sound Magnet aus Freiburg (Rock) und Zola aus Basel (Urban) geehrt. Aus der Südostschweiz war die Teilnahme an der diesjährigen Demotape Clinic recht bescheiden, dies im Gegensatz zu früheren Jahren. (hb)

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Die Gratis-Raschelsäcke verschwinden

Wegwerf-Plastiksäcke gehören in der Schweiz spätestens 2018 der Vergangenheit an. Bereits jetzt gibt es Ladenketten, die keine Gratis-Säckli mehr abgeben.

Von Hans Bärtsch

Kunde: «Könnten Sie mir bitte einen Sack geben?» Verkäuferin: «Macht 30 Rappen.» Wie bitte? Übernimmt der Media-Markt in Chur, wo besagter Kunde einen kleinen Einkauf getätigt hat, eine Vorreiterrolle in der Wegwerfsack-Diskussion, die schon Jahre dauert und 2018 mittels Branchenlösung in einen freiwilligen Verzicht münden soll?

Tatsächlich ist es so, dass die Media-Markt-Geschäftsleitung schon vor über einem Jahr beschlossen hat, aus «umweltfreundlichen Gründen» keine Plastiktaschen mehr zu bestellen, wie bei der Medienstelle zu erfahren ist. Die einzelnen Filialen können die Gratissäcke so lange abgeben, wie sie welche vorrätig haben. «Anschliessend», so Séverine de Rougemont von der Media-Markt-Unternehmenskommunikation, «werden nur noch Permanent-Tragtaschen angeboten.» Dabei handelt es sich um sogenannte RPet-Taschen. Diese bestehen aus Kunststo von gebrauchten PET-Flaschen, sind robust und mehrfach verwendbar. Eine Tasche der Grösse L kostet einen Franken, für XL-Modelle sind zwei Franken fällig. Für Kleineinkäufe hält der Media-Markt Papiertaschen zur Verfügung – für eingangs erwähnte 30 Rappen.

Andere sind auch schon so weit

Wie ist das nun mit der Vorreiterrolle von Media-Markt? «Im Kreis unserer Mitglieder gibt es schon lange Vorreiter, die bereits jetzt auf freiwilliger Basis einen Beitrag zur Reduktion von Wegwerf-Plastiksäcken leisten. Dazu gehören beispielsweise Aldi und Lidl. Diese Unternehmen geben schon heute an den Kassen grundsätzlich keine Wegwerf-Plastiksäcke mehr ab», sagt Dagmar Jenni, Geschäftsführerin der Swiss Retail Federation.

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Bald nicht mehr gratis: Raschelsäcke bei Detailhändlern wie Coop.

Diesem Verband gehören weitere Lebensmittel-Detailhändler wie Manor, Spar und Volg an. Und um den Lebensmittelhandel geht es in der Plastiksack-Diskussion vorrangig. Denn dort fällt der Grossteil des Wegwerfsack-Verbrauchs an. Und der ist alles andere denn umweltfreundlich. Die rund 3000 Tonnen Plastiksäcke, die bis dato gratis an den Kassen abgegeben wurden, entsprechen zwar nur einem halben Prozent des jährlichen Verbrauchs von Kunststoffen in der Schweiz. Aber: Plastik belastet die Umwelt immer mehr (siehe Box 1).

Reduktion um 80 Prozent

Vom freiwilligen Verzicht der Branche, die nebst der Swiss Retail Federation von der Interessengemeinscha Detailhandel Schweiz (IG DHS; hier sind die Branchengrössten Migros und Coop Mitglied) repräsentiert wird, erho man sich eine Reduktion der Abgabemenge um rund 80 Prozent. So dürfte es laut IG DHS möglich sein, «ein gleichwertiges Reduktionsziel zu erreichen, wie es sich die EU bis 2025 gesetzt hat». Konkret strebt die Europäische Union eine Reduktion des jährlichen Verbrauchs von Kunststoff-Tragetaschen auf höchstens 40 pro Einwohner. Heute liegt diese Zahl etwa bei EU-Mitglied Deutschland bei fast dem doppelten. Um die EU-Richtlinie umzusetzen, kosten Plastiksäcke bei unserem nördlichen Nachbarn seit Juli.

Weiterhin gratis abgegeben werden können die kleinen weissen Einweg-Plastiksäckli sowohl in der EU wie in der Schweiz im Offenverkauf. Etwa bei Früchten, Gemüse und Brötchen ist diese Verpackungslösung aus hygienischen Gründen sinnvoll beziehungsweise nötig. Hierzulande soll auch der Convenience-Bereich ausgenommen sein, «weil solche Shops hauptsächlich spontane Einkäufe verzeichnen und die Menge der Einweg-Plastiksäcke mit einem Verzicht auf die kostenlose Abgabe nicht wesentlich reduziert würde», wie die Swiss Retail Federation argumentiert.

Motion de Buman abschreiben

In trockenen Tüchern ist die freiwillige Branchenvereinbarung von Interessengemeinschaft Detailhandel Schweiz und Swiss Retail Federation noch nicht. Dazu müsste der Ständerat die Motion von Dominique de Buman (CVP, Freiburg) abschreiben, mit welcher dieser 2012 ein Verbot der Wegwerf-Plastiksäcke gefordert hatte (siehe Box 2). Der Nationalrat hat dies im Juni dieses Jahres bereits getan. Die Umweltkommission des Ständerats empiehlt dasselbe.

Die Branche selber ist parat. Die Vereinbarung auf den Verzicht von Wegwerf-Plastiksäcken beziehungsweise eine kostenpflichtige Abgabe soll ab «spätestens 1. Januar 2018 gelten», wie Swiss-Retail-Federation-Geschäftsführerin Jenni sagt. Bis dann sollen die Unternehmen die notwendigen Umstellungen vorgenommen haben. Und auch für die Kundschaft sei dies eine adäquate Vorlaufzeit. Es sei jedenfalls erfreulich, «dass der Detailhandel auf freiwilliger Basis bereit ist, schnell wirksame Massnahmen zu ergreifen und einen ökologischen Beitrag zu leisten», freut sich Jenni.

Apropos Kunde: Als solcher hätte man es eigentlich schon immer selber in den Händen gehabt, dass die Plastiksack-Diskussion gar keine sein muss – indem man für jeden Einkauf eine Einkaufstasche von zu Hause mitnimmt. Möglichst keine aus Plastik.

 

BOX 1

Stoppp ist unzufrieden mit Branchenlösung

Unter anderem der Verein Stoppp (Stop Plastic Polution) ist unzufrieden mit der freiwilligen Branchenlösung – er würde ein Verbot der Plastiksäckli an Ladenkassen begrüssen. Stoppp erachtet die Plastikverschmutzung in der Schweiz und weltweit als «unterschätztes Problem». Plastikprodukte seien so schädlich, «weil sie billig und für den kurzen, einmaligen Gebrauch konzipiert sind». Sie würden achtlos weggeworfen und hätten keinen Wert, auch nicht im Recycling (PET ausgenommen). Plastikabfälle bauen sich über Hunderte von Jahren nicht ab, wenn sie in die Umwelt gelangen. Sie gelangen dafür in die Nahrungskette, weil Vögel und Fische sie für etwas Essbares halten. (so)

 

Box 2

Ständerat zieht nach

In der Herbstsession (22. September) ist der Ständerat dem Nationalrat wie erwartet gefolgt; auch er schreibt die Motion de Buman ab und verzichtet damit auf ein Verbot der Raschelsäckli. Der Weg für die Branchenvereinbarung des Detailhandels ist somit frei. Migros und Coop kündigten umgehen an, dass die Säckchen an ihren Kassen künftig fünf Rappen kosten werden. Die beiden Grossverteiler erhoffen sich dadurch eine drastische Reduktion des Verbrauchs von umweltbelastenden Einweg-Plastiksäcken. (so)

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Das Vorarlberg – ein Schweizer Nachbar vernetzt sich auf allen Ebenen

Direkter Nachbar, aber in vielem doch so unbekannt: das Vorarlberg. Eine Studienreise mit der schweizerischen Agrarallianz lässt in Sachen Architektur, Handwerk, Tourismus und Landwirtschaft hinter die Kulissen des westlichsten österreichischen Bundeslandes blicken.

Von Hans Bärtsch (Text und Bilder)

Schon die Fahrt vom SBB-Bahnhof St. Margrethen im St. Galler Rheintal nach Lustenau hält überraschende Infos parat. Wir haben die Grenze zu Österreich passiert und werden von Reiseleiter Martin Strele darauf aufmerksam gemacht, dass das fruchtbare Land am alten Rhein – also dort, wo der Rhein floss, bevor er kanalisiert wurde – von Schweizer Ortsgemeinden bewirtschaftet wird. Es handelt sich dabei um ein historisches Relikt aus dem 18. Jahrhundert, als einige Schweizer Gemeinden noch zu Vorarlberg gehörten. Nicht weniger als ein Fünftel der Fläche Lustenaus – immerhin eine 22’000-Einwohner-Stadt – ist in Schweizer Hand, insgesamt rund 450 Hektar. Das nachbarschaftliche Verhältnis ist vorbildlich, gerade in Sachen Natur- und Landschaftsschutz wird die Arbeit der Schweizer Landwirte im Riedgebiet allenthalben gelobt.

Holz- und andere Bauten

Erste Station der Studienreise mit rund 25 Vertretern der Agrarallianz (siehe Box) ist der Life Cycle Tower in Dornbirn, ein Hochhaus ganz aus Holz. Es handelt sich dabei um ein architektonisches Vorzeigeprojekt in Sachen energieeffizientes und ökologisches Bauen. Erstellt wurde das 27 Meter hohe Gebäude in Systembauweise mit heimischem Holz, wie Franz Rüf von der Regionalentwicklung Vorarlberg erklärt. Es ist das erste achtgeschossige Holzgebäude in Österreich. Der Herausforderungen waren viele – etwa, die Brandschutzvorschriften zu erfüllen. Seit der Erstellung 2012 ist der Life Cycle Tower ein Magnet für Architekten und Architekturstudenten aus aller Welt. 2013 wurde das hauptsächlich für Büros genutzte Gebäude mit dem Vorarlberger Holzbaupreis in der Kategorie Innovative Holzanwendung ausgezeichnet. Klimatisch und atmosphärisch fühlt man sich hier äusserst wohl, sofern sich das nach einem Kurzbesuch bereits beurteilen lässt.

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Der Life Cycle Tower in Dornbirn.

Ein paar Steinwürfe entfernt steht das Haus 2226 in Lustenau. Sechs Stockwerke hoch und mit der typischen Materialpalette moderner Büro- und Gewerbebauten erstellt: Metall, Beton und viel Glas. Gleichwohl ist auch dies ein Vorzeigeprojekt eines heimischen Architekturbüros (Baumschlager-Eberle). 2226 kommt ohne Heizung Kühlung und mechanische Lüftung aus. Das Gebäude versteht sich als Manifest gegen immer mehr Technik. Im Gegensatz zum Life Cycle Tower ein markanter, monumental wirkender Klotz, was auch damit zu tun haben mag, dass 2226 ein alleinstehendes Gebäude ist. Quasi eine Antithese zu den deutlich flacheren Gewerbebauten ringsum, wie es ein Architekturkritiker beschrieben hat.

Verbreitete Handwerkskunst

Doch zurück zum Life Cycle Tower und der Verwendung von Holz. Unterm Strich macht genau die Verwendung des nachwachsenden Rohstoffes Holz dieses Gebäude zum energieeffizienteren der beiden. Und: Mit Holz ist Handwerkskunst verbunden. Kaum irgendwo im deutschsprachigen Raum gibt es so viele Sägereien, Zimmereien, Schreinereien, Tischlereien wie im Bregenzerwald, einem ländlichen Teil des Vorarlbergs. Das ist auch dem Bündner Architekten Peter Zumthor nicht verborgen geblieben, der kaum mehr eine Baute erstellt ohne den Beizug von Vorarlberger Holzfachleuten. Kein Wunder, sind speziell im Bregenzerwald selbst Bushaltestellen liebevollst aus Holz gefertig. Den innovativen Umgang mit dem heimischen Werkstoff Holz anerkennt auch die EU; für den Life Cycle Tower flossen Fördergelder aus Brüssel. Franz Rüf von der Regionalentwicklung Vorarlberg bezeichnet Holz jedenfalls als grosse Chance für das westlichste österreichische Bundesland.

Handwerkskunst ist aber nicht nur auf Holz beschränkt. Im Werkraum Bregenzerwald in Andelsbuch (ein Bau von Peter Zumthor!) lebt der Vernetzungsgedanke. Hier können kooperationswillige Handwerker zeigen, was sie zu bieten haben. Geschäftsführerin Renate Breuss benennt das Motto des öffentlich zugänglichen Werkraums so: «Wir nehmen die Zukunft selber in die Hand.» Denn nebst dem Tourismus sei das Handwerk der wichtigste Wirtschaftszweig des Vorarlbergs. Gemäss Breuss komme ein Drittel der Nachfrage nach Handwerksarbeiten von ausserhalb des Landes. Ein untrügliches Zeichen, auf welch hohem Niveau hier das Handwerk zuhause ist.

«Natürliche Visitenkarte»

Ortswechsel: Wir befinden uns nun im Grossen Walsertal, dort, wo die Menschen «Leutescheu und Viehnarren» sind, wie es ein Einheimischer ausdrückt. Doch auch in diesem dünn besiedelten, bergbäuerlich geprägten Gebirgstal nordöstlich von Bludenz hat der Vernetzungsgedanke längst Einzug gehalten. Äusserlicher Ausdruck dafür ist das Haus Biosphärenpark in Sonntag. Dort wird eine Schaukäserei betrieben, das Haus ist aber auch die Vermarktungszentrale für Landwirtschaftsprodukte aus der näheren Umgebung. Die Marke Walserstolz versteht sich als «natürliche Visitenkarte der Region». Regio-Obmann Josef Türtscher erklärt, was es damit auf sich hat: Der Rohstoff des Walserstolz-Käses ist naturbelassene Heumilch. Bis zu ihrer vollen Reife werden die Käselaibe – rund 170 Tonnen im Jahr – in Kellern von Emmi Österreich, einer Ländertochter des grössten Schweizer Milchverarbeiters, eingelagert.

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Blick in den Stall von Bauer Stefan Martin in Fontanella.

Bauer Stefan Martin aus Fontanella ist einer der Biomilch-Lieferanten. Er hat 2015 auf Original Braunvieh umgestellt; mit dieser Rasse lasse sich klimaschonender wirtschaften. Das passe auch besser in den Biosphärenpark Grosses Walsertal. Martin verheimlicht aber nicht, dass die Landwirte stark gefordert seien und nicht jeder einen solchen Schritt machen könne. «Bio ist bei uns erst am Entstehen», benennt er die Realitäten. Zum Grossteil werde Milch im Grossen Walsertal noch konventionell produziert und verarbeitet. Ein Problem ist die steile Hanglage, die fast überall vorherrscht. Nur schon grössere Laufställe für die Kühe zu realisieren, sei für manchen Betrieb ein Ding der Unmöglichkeit. Da vermag auch der deutliche bessere Preis für Biomilch nicht viel auszurichten.

Die drei E im «Schiff» Hittisau

Vernetzung, regionale Wertschöpfung, Zusammenarbeit mit der Landwirtschaft: Diese nun oft gehörten Begriffe nimmt auch Hans-Peter Metzler in den Mund, Spartenobmann Tourismus in der Vorarlberger Wirtschaftskammer und Gastgeber im Familienhotel «Das Schiff» in Hittisau. Hier kommt nur auf den Tisch, was von hier ist. Aber nicht nur das. Das «Schiff» betreibt mit dem Ernele eine Ladenwirtschaft. Unter dem Zeichen der drei E (Einkehren, Essen, Einkaufen) lassen sich handverlesene Spezialitäten geniessen und mit nach Hause nehmen. Der Tourismus in Österreich läuft im Vergleich zur Schweiz derzeit zwar wie geschmiert, ohne Sorgen ist die Branche aber trotzdem nicht. Metzler erwähnt fehlende kompetente Mitarbeiter, eine Folge des verstärkten (internationalen) Wettbewerbs auf dem touristischen Arbeitsmarkt.

Zu einem bleibenden Erlebnis der zweitägigen Studienreise wird der Besuch bei Kaspanaze Simma, dem ersten grünen Landtagsabgeordneten Vorarlbergs. Zusammen mit seiner Frau Lucia beschränkt sich Simma auf seinem Hof in Andelsbuch auf das Minimum. Subsistenzwirtschaft nennt sich das: So viel, wie es für die Selbstversorgung braucht, nichts Überschüssiges. Subsistenzwirtschaft schliesst auch den Tauschhandel mit ein. Eine Idee, die Simma gefällt. Geldwirtschaft dagegen ist dem heute 62-Jährigen zuwider: «Sie ist ineffizient.» Mit den heutigen Grünen kann es Simma, den im Land jedes Kind kennt, nicht mehr. Zu sehr sei die Partei Teil des Establishments geworden. Mit wie wenig man auskommen kann, das leben Kaspanaze und Lucia Simmen vor. Handarbeit oder Arbeit mit Arbeitstieren wie dem Pferd kommt vor dem Einsatz von Maschinen. Dass ihre Kinder sich jetzt ein Auto wünschen und mithin Teil einer «normalen» Konsumwelt sind, ist für die Simmas eine andere, eher schmerzliche Realität.

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Substistenzwirtschaft: Kaspanaze Simma in Andelsbuch lebt bewusst sehr bescheiden.

Der Ausflug ins Vorarlberg endet beim Vetterhof in Lustenau, einem grossen Biobetrieb in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete des Bundeslandes. Wie bei Kaspanaze Simma ist hier alles grün bis über die Ohren. Nur die Philosophie ist eine andere. Inhaber Simon Vetter vermarktet Gemüsekisten via Social Media, ausgeliefert wird mit Elektrofahrzeugen, vorfinanziert wurde das Ganze per Crowdfunding. Ein Drittel der Kundschaft sind Schweizer, und das nicht nur wegen des starken Frankens, sondern wegen der Qualität der Ware. Und wohl auch guter, frecher Vermarktungsideen. So gehört Vetters Biodinkel-Vodka «in jeden guten Kommunistenhaushalt», wie es in seiner Werbung heisst.

 

(((BOX)))

Die Agrarallianz

Die Agrarallianz prägt die Schweizer Agrarpolitik seit den Neunzigerjahren mit. Ihr gehören Organisationen wie Bio Suisse, Pro Natura, Stiftung für Konsumentenschutz usw. an. Insgesamt sind es 17 Organisationen aus dem Bereich Konsumentinnen und Konsumenten, Umwelt- und Tierschutz sowie Landwirtschaft. Die Geschäftsführung hat die Churer Marketing- und Kommunikationsagentur Pluswert inne. (hb)

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Kein Dienst am Werk­platz Schweiz

Heute jährt sich die Aufgabe des Euro-Mindestkurses durch die Nationalbank. Ein Entscheid, der der Schweiz schadete.

Ein Kommentar von Hans Bärtsch, Wirtschaftsredaktor

Frankenschock – diesen Begriff muss man heute keinem Kind mehr erklären. Die Schweizerische Nationalbank hat mit ihrem Entscheid, den Euro-Mindestkurs aufzugeben, ein veritables Erdbeben ausgelöst, das mehr oder weniger die ganze Volkswirtschaft unseres Landes tangierte. Pardon: tangiert. Denn Nachbeben werden sich noch längere Zeit bemerkbar machen. Vor allem die produzierende und exportierende Industrie – Alstom/General Electric ist nur das jüngste Beispiel – gehört zu den am meisten gebeutelten Branchen, zusammen mit den touristischen Betrieben hierzulande, die den Gästen aus dem Euroraum viel zu teuer geworden sind – auf einen Schlag um satte 15 Prozent.

Bei Bekanntgabe ihres Entscheids am 15. Januar 2015 argumentierte die SNB, ein Festhalten an der Euro-Untergrenze sei nicht mehr tragbar, gesamtwirtschaftlich zu riskant. Die Kardinalfrage ein Jahr später lautet: Hat die SNB den richtigen Entscheid getroffen? Ökonomen und auch die Politik von links bis rechts sind in dieser Frage bis heute zutiefst gespalten. Natürlich – die Schweiz ist nicht untergegangen, die allerdüstersten Szenarien zu Arbeitsplatzverlusten haben sich nicht bewahrheitet, Importeure und Konsumenten können sogar in grossem Stil vom schwachen Euro profitieren.

Aber: Erst 2016 ist das Jahr der Bewährung. Heuer entscheidet sich, wer den Schnauf hat, weiter gegen das günstigere Ausland zu konkurrenzieren. Und wem es nachhaltig gelingt, an der Produktivitätsschraube zu drehen. Man darf nicht vergessen: Die Euro-Untergrenze galt knapp dreieinhalb Jahre lang – und schon die 1.20 Franken waren eigentlich ein viel zu tiefer Wert. Das Fatale am Ganzen: Dem europäischen Ausland, zu dem die Schweiz in starker wirtschaftlicher Abhängigkeit steht, geht es abgesehen von Deutschland nicht wesentlich besser. Und solange das so ist, bleibt der Euro schwach.

Nein, die SNB-Spitze hat der Schweiz mit der Aufgabe des Euro-Mindestkurses keinen guten Dienst erwiesen. Die Nationalbank hat zwar den eigenen Kopf aus der Schlinge gezogen, sprich eine massiv aufgeblähte Bilanz vermieden. Die Kehrseite der Medaille ist ein Werkplatz Schweiz, der einer heftigen, unnötigen Dauerzerreissprobe ausgesetzt ist.

Das griechische Drama

Griechenland beschäftigt ganz Europa – einmal mehr. Gegen Ende Juni 2015 spitzt sich die Situation aber zu – kommt es zum Grexit? Die «Südostschweiz» gibt Antworten auf die drängendsten Fragen. Wie zum Beispiel sollen sich Schweizerinnen und Schweizer verhalten, die Sommerferien auf Hellas gebucht haben?

pdf Südostschweiz (30.06.2015)

TV-Serien – die Serie dazu

Buchcover-Rückseite (Ausschnitt) von Jürgen Müllers «TV-Serien»

Buchcover-Rückseite (Ausschnitt) von Jürgen Müllers «TV-Serien»

TV-Serien, die komplexe Geschichten erzählen, sind derzeit in aller Munde. Wie ist es zum Serienboom gekommen, und was macht den Reiz von «Breaking Bad» und Co. aus? Die «Südostschweiz» beleuchtet das Thema während mehreren Wochen in einer Artikelserie. Hier eine erste Auslegeordnung.

pdf Südostschweiz (30.06.2015)

«Sie könnten heute mal wieder Sushi essen gehen»

«Enorme Möglichkeiten»: Swico-Präsident Andreas Knöpfli zu den Chancen für den Schweizer Handel durch die Digitalisierung. (Pressebild)

«Enorme Möglichkeiten»: Swico-Präsident Andreas Knöpfli zu den Chancen für den Schweizer Handel durch die Digitalisierung. (Pressebild)

 

Die Digitalisierung im Schweizer Handel schreitet mit grossen Schritten voran. Welches sind die Herausforderungen für die Anbieter? Und was kommt auf die Konsumenten zu? Eine Auslegeordnung des Branchenverbandes Handel Schweiz.

Von Hans Bärtsch

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Warenhaus und bekommen eine Mitteilung auf Ihr Smartphone. Mit der Nachricht werden Sie an ein Produkt erinnert, auf das Sie über die App des Warenhauses aufmerksam wurden. Da Sie schon mal im Laden stehen, sehen Sie sich das Produkt an und kaufen es eventuell. Oder aber: Sie ärgern sich beim Kleiderkauf oft darüber, dass die Grösse, die Sie benötigen, nicht verfügbar ist. Oder dass das gute Stück trotz «richtiger» Grösse schlicht nicht passt. Nun gibt es Bodyscanner, etwa an den Flughäfen der USA. Mit einem solchen Scan ist man auf den Millimeter ausgemessen. Was, wenn Sie diese Daten nun dazu verwenden könnten, eine massgeschneiderte Jeans zu ordern?

Wo wähle ich ein Opt-in?

Vor allem Zweitgenanntes ist zwar noch Zukunftsmusik. Aber die beiden Beispiele zeigen: Der Handel wird von der Digitalisierung immer stärker durchdrungen. Und fordert sowohl die Anbieter wie die Konsumenten heraus, wie sich an einem Medienanlass der Branchenverbandes Handel Schweiz zeigte. Laut Andreas Knöpfli, Präsident von Swico, dem Verband der Informations-, Kommunikations- und Organisationstechnik, besteht für den Handel die grösste Herausforderung darin, die Möglichkeiten optimal und effektiv, aber immer unter Einhaltung der Datenschutzregeln zu nutzen. Umgekehrt steht der Konsument vor der Entscheidung, wofür und für wen er seine Daten freigibt. Um es mit dem Fachbegriff zu sagen: Wo wähle ich ein Opt-in – gebe also explizit das Einverständnis, dass meine Daten genutzt werden dürfen?

In keinem Verhältnis zum Nutzen

Bisher waren Kundenkarten mehr oder weniger das höchste der Gefühle, wie der Detailhandel an Kundendaten herankam. Aber: Der Bewirtschaftungsaufwand steht für die Unternehmen in keinem Verhältnis zum Nutzen, wie Studien zeigen. Das hat auch massgeblich damit zu tun, dass Kundenkarten in Familien häufig geteilt werden – individuelles Einkaufsverhalten lässt sich deshalb aus den mit der Karte getätigten Einkäufen kaum ableiten.

 

Der Bearbeitungsaufwand bei Kundenkarten steht in keinem Verhältnis zum Nutzen für die Unternehmen.

 

Anders wird das nun durch neue, auf das Smartphone zugeschnittene Anwendungen. Das Smartphone wird in der Regel individuell genutzt, das Gerät gibt – je nach Einstellung – Standort und sogar Tätigkeit seines Nutzers bekannt. Vor dem Hintergrund, dass mobile Computer bezüglich Zugriff aufs Internet den Desktop-Computer soeben hinter sich gelassen haben und sich diese Tendenz fortsetzen wird, ergeben sich für den Handel «enorme Möglichkeiten», wie Knöpfli sagt.

Aber eben auch für den Konsumenten. Wiederum zwei Beispiele. Ich schlendere durch eine Ladenstrasse. Eine App macht mich darauf aufmerksam, dass ich heute mal wieder Sushi essen könnte. Ich bekomme einen Restaurant-Vorschlag in der Nähe – weil ich dieses Lokal wähle, erhalte ich mittels eines Codes, den ich inzwischen aufs Smartphone bekommen habe, erst noch eine Vergünstigung. Oder mir wird in einem Auto-Showroom auf interaktiven Bildschirmen jenes Modell in der richtigen Farbe und Ausstattung angezeigt, das ich mir zuvor schon via App des Herstellers angeschaut habe. «Verstärkung des Konsumerlebnisses», heisst das in der Fachsprache.

Mit einem Klick bestellt

Dass der Handel sich für die digitale Zukunft fit machen muss, zeigt auch ein anderer Umstand. Die grösste Konkurrenz eines stationären Ladens ist nicht das nächste Warenhaus oder Einkaufszentrum, sondern eine bekannte Persönlichkeit, die auf ihren Social-Media-Kanälen mit einem Kleid zu sehen ist, das den Followern gefällt und das diese auch haben wollen. Verrät die Persönlichkeit, wo sie das Kleid gekauft hat und gibt einen entsprechenden Kauftipp ab, kann das Kleid bei Twitter mit einem Klick auf den Button «One-Klick-Purchase» erstanden werden.

Traditionelle Läden haben also nur dann eine Chance gegen Anbieter wie Ebay und andere, wenn sie ebenfalls online präsent sind. Kaspar Engeli, Direktor von Handel Schweiz, drückt es pointiert aus: «Wer nicht online ist, ist bald off market. » Also weg vom Fenster. Engeli rät Schweizer Anbietern, ihre Internetportale und Produkte durch Mehrsprachigkeit vermehrt auf die Weltmärkte auszurichten. Nebst Englisch sollten vermehrt auch weit verbreitete Sprachen wie Spanisch, Portugiesisch, Chinesisch und Russisch verwendet werden.

pdf Südostschweiz (27.03.2015)

Die Migros Ostschweiz hat grosse Expansionspläne

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Erfolgsstory: Das Schnellverpflegungskonzept Chickeria ist eine Eigenerfindung der Migros Ostschweiz. (Pressebild)

 

Die Migros Ostschweiz, zu der auch das Filialnetz Graubünden gehört, hat ein gutes Jahr hinter sich. Und will in den kommenden Jahren im ganzen Wirtschaftsgebiet kräftig ausbauen.

Von Hans Bärtsch

Rekordergebnisse fast auf der ganzen Linie präsentierten die Verantwortlichen der Migros Ostschweiz gestern im sankt-gallischen Abtwil. Im Vergleich zum Vorjahr konnte der Umsatz 2014 um 1,5 Prozent auf 2,41 Milliarden Franken gesteigert werden, der Reingewinn legte um 2,8 Prozent auf 67,2 Millionen zu. Die Zuwächse haben in erster Linie mit dem Abschluss von Bauvorhaben beziehungsweise Expansionen zu tun, wie Geschäftsleiter Peter Diethelm an der Bilanzmedienkonferenz erläuterte.

Bio und «Aus der Region» boomt

Besonders erfreulich entwickelten sich bei der Migros Ostschweiz, die knapp 9300 Angestellte (rund 5900 Vollzeitstellen) zählt, die Bereiche Bioprodukte (+26 Prozent auf 112 Millionen Franken Umsatz) und «Aus der Region. Für die Region» (+6,7 Prozent auf 217 Millionen). Diethelm bezeichnete «Aus der Region» als «Erfolgsgeschichte sondergleichen». Die Kundschaft zeige grosses Vertrauen in das seit zwölf Jahren laufende Programm. Überdies würden rund 3500 Bauernfamilien, Produzenten und Lieferanten aus dem ganzen Wirtschaftsgebiet der Migros Ostschweiz direkt davon profitieren.

 

Die Migros Ostschweiz investiert in diesem Jahr allein in die Standorte Davos (Symond-Park) rund 9,5 Millionen Franken. Für den Neubau in Domat/Ems sind es 3,2 Millionen. Bereits realisiert ist die Optimierung des Calandaparks in Chur.

 

Hauptumsatzbringer blieben die Supermärkte, mit denen im vergangenen Jahr ein Plus von 1,7 Prozent auf 1,87 Milliarden Franken erzielt wurde. Besonders erfolgreich entwickelte sich eine ureigene Erfindung der Migros Ostschweiz – das Schnellverpflegungsformat Chickeria. Eine der ersten Filialen wurde 2014 in Chur-Masans in Betrieb genommen, weitere sollen folgen. Darunter im zürcherischen Hinwil auch ein erstes Drive-in.

Grosse Investitionssummen

Nicht nur bei den Chickeria-Filialen, sondern in allen Bereichen hat die Migros Ostschweiz Grosses vor. Diethelm sprach von «aktiven Expansionen» im ganzen Wirtschaftsgebiet, welches die Kantone Graubünden, St. Gallen, beide Appenzell, Thurgau, Schaffhausen, Teile des Kantons Zürich und das Fürstentum Liechtenstein umfasst. Nach 173 Millionen 2014 dürfte im laufenden Geschäftsjahr wiederum etwa gleich viel investiert werden – notabene aus dem eigenen Cashflow. Grossprojekte stehen unter anderem in Davos und in Domat/Ems vor dem Abschluss. Mit der Expansionsoffensive erhofft sich die Geschäftsleitung auch, Bewegung in stockende Projekte zu bringen – so ist das Engadin für die Migros noch immer praktisch Brachland. Zusammengefasst will die Genossenschaft Migros Ostschweiz ihre Position im Detailhandel, in der Gastronomie und im Freizeitbereich weiter ausbauen. Im Zuge dieser Aktivitäten sollen auch zahlreiche neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Konkurrenz und Franken

So erfreulich sich das Geschäftsjahr 2014 auch ausnimmt, ganz ohne Sorgen ist die Migros Ostschweiz nicht. Stichwort ist der 15.Januar 2015 – der Tag, an dem die Schweizerische Nationalbank den Euro/Franken-Kurs aufhob. Die grenznahen Filialen haben seither im Vergleich zu den übrigen Filialen zwei bis drei Prozent an Umsatz eingebüsst. Wie Geschäftsleiter Diethelm zudem ausführte, sei im gesamten Schweizer Detailhandel mit einem zunehmenden Konkurenzdruck zu rechnen.

Stolz ist die Migros Ostschweiz auf die grosse Zahl junger Leute, die bei ihr einen von 23 möglichen Berufen erlernen. Seit Jahren sind es gut 500 Lernende – ein «wichtiges Fundament für unser Unternehmen», wie es René Frei, Leiter Direktion Personelles, ausdrückte. Und ebenfalls stolz ist man auf die Mindest- beziehungsweise Richtlöhne, die «über den Forderungen der Gewerkschaften liegen». Erwähnung fand auch das Migros Kulturprozent: 10,5 Millionen Franken schüttete die Migros Ostschweiz im vergangenen Jahr in den Bereichen Kultur, Soziales, Bildung, Freizeit, Sport und Wirtschaftspolitik aus.

pdf Südostschweiz (19.03.2015)

Artikel zur Migros Ostschweiz aus den Vorjahren:

pdf Süedostschweiz (20.03.2012)

pdf Süedostschweiz (02.03.2011)

pdf Süedostschweiz (18.03.2009)

pdf Süedostschweiz (12.03.2008)

60 bis 80 neue Produkte – weil es die Konsumenten wünschen

Eines der grössten Erfolgsprodukte von Lindt & Sprüngli: die Goldhasen. (Pressebild)

Eines der grössten Erfolgsprodukte von Lindt & Sprüngli: die Goldhasen. (Pressebild)

 

Der Erfolg des Schokoladekonzerns Lindt & Sprüngli erklärt sich unter anderem mit laufenden Innovationen. Schweiz-Chef Kamillo Kitzmantel erklärt, was es damit auf sich hat.

Von Hans Bärtsch

Schoggi-Job ist wohl der falsche Ausdruck. Obwohl alles, was die Entwickler von neuen Produkten am Sitz des Traditionsunternehmens Lindt & Sprüngli im zürcherischen Kilchberg umtreibt, mit Schokolade zu tun hat. Aber das Ertüfteln von neuen Geschmacksrichtungen ist Knochenarbeit. 60 bis 80 Produkte kommen jedes Jahr neu ins Sortiment. «Die Kon- sumenten sind offen dafür und erwarten das auch», sagt Kamillo Kitzmantel, Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung.

Manchmal ist es auch bloss die Verpackung, die geändert wird. Auslöser sind mitunter saisonale Ereignisse wie Ostern, Weihnachten oder der Valentinstag, an denen Lindt & Sprüngli, der führende Schweizer Markenschoggi-Hersteller, besonders auftrumpft. Dieses Jahr beispielsweise sind es nicht nur die klassischen Goldhasen, die in den Regalen der Verkaufsläden stehen, sondern mit sogenannten Animal-Prints modisch aufgepeppte Hasen. Warum gerade Tiermuster? Weil die im Moment angesagt sind, etwa im Bereich Textilien oder Handtaschen.

Limetten und Meersalz

Bei der Excellence-Reihe verweist Kitzmantel auf die Tafel namens Lime Intense – eine Kombination aus dunkler Schokolade und fruchtig-säuerlichen Limetten-Stücken. Ein anderes Beispiel ist die Beimischung von Meersalz; das Resultat nennt sich ganz poetisch A la pointe de Fleur de Sel.

Ob Osterhasen, Tafelschokoladen, Pralinés oder Lindor-Kugeln, Kitzmantel weiss reihenweise Müsterchen zu erzählen, wie Produkte verfeinert, erneuert oder komplett neu erfunden wurden. Dabei wird nicht nach dem Prinzip «try and error» verfahren, wie es in der Unternehmenswelt manchmal angewendet wird. Also ein Produkt zu lancieren und dann die Konsumenten entscheiden zu lassen, ob es ihnen gefällt. Bei Lindt & Sprüngli wird vielmehr akribisch an einer neuen Geschmacksrichtung getüftelt und Hunderten von Testpersonen zum Versuchen gegeben. Falls nötig, wird nachgebessert, bis eine neue Schokolade kreiert ist, die von Schweiz-Chef Kitzmantel und seinen Fachleuten für den Verkauf für gut befunden wird.

Aufwendige Marktanalysen

Die Kadenz an Neulancierungen ist mit gut einer pro Woche hoch. «An- spruchsvoll», nennt Kitzmantel das unablässige Innovativ-sein-Müssen. Und das immer auf dem höchsten Qualitätsniveau. Die Früchte der Anstrengungen: Die Produkte von Lindt & Sprüngli kommen derart reif auf den Markt, dass nur selten eines wieder aus dem Sortiment genommen werden muss. Was im Übrigen nicht nur an den Produkten selber liegt, sondern auch an vorgängigen ausführlichen Markt-, Konsum- und Trendanalysen. Und letztlich einem ausgeklügelten Marketing – dem A und O, um ein neues Produkt erfolgreich auf den Markt zu bringen und dort zu etablieren.

Auf der ganzen Welt beliebt: die Lindor-Kugeln von Lindt & Sprüngli. (Pressebild)

Auf der ganzen Welt beliebt: die Lindor-Kugeln von Lindt & Sprüngli. (Pressebild)

 

Verschiedene Geschmäcker

Lindt & Sprüngli ist ein global tätiger Hersteller von Premium-Schokolade. Sprechen die Konsumenten in allen Weltregionen auf die gleichen Schoggi- Geschmacksrichtungen an? Kitzmantel verneint – weshalb es überaus wichtig sei, neue Produkte nicht nur zentral in Kilchberg, sondern auch in den regionalen Märkten selber zu entwickeln. Dasselbe gelte für die Verpackungen und Darbietungsformen. Kitzmantel erwähnt das Beispiel der traditionel- len grossen Schoggi-Eier mit einer Überraschung drin, die sich in Italien zu Ostern grosser Beliebtheit erfreuen – ausschliesslich in Italien, in keinem andern Land sind diese laut Kitzmantel so typisch.

Kulturell-kulinarisch gibt es erstaunliche Unterschiede, teils auf kleinstem Raum. So ist in der Deutschschweiz Milchschokolade beliebter als die dunkle, wogegen der Geschmack in der Romandie eher zur dunklen Schoggi geht. Richtung Frankreich verstärkt sich dieser Trend – dort ist dunkle bis sehr dunkle Schoggi die beliebteste. Pauschal lässt sich für Europa sagen: Je wärmer (südlicher), desto mehr werden herbe Geschmacksrichtungen bevorzugt. Erstaunliches ist auch in Deutschland zu beobachten – hoch im Norden verläuft ein eigentlicher Marzipan-Graben. Oberhalb dieser Grenze finden Marzipan-Produkte Anklang, südlich davon deutlich weniger. Und in Ländern wie Italien ist Marzipanschokolade überhaupt nicht gefragt.

Neue Zielgruppen

Nebst neuen Produkten und Verpackungen setzt Lindt & Sprüngli auch darauf, sich immer wieder neue Zielgruppen zu erschliessen. Das sei etwa mit den trendigen Hello-Tafeln und -Stängeln sowie dem Motto «nice to sweet you» gelungen, erläutert Kitzmantel. Erstmals habe man dabei auf die englische Sprache gesetzt, um ein junges, urbanes Publikum anzuspre- chen.

Ein neues Publikum dürfte Lindt & Sprüngli auch mit neuen Geschmacksrichtungen bei den traditionellen Lindor-Kugeln finden, darunter Kokosnuss, Mandel und Cappuccino. Damit will man dem erfolgreichsten Produkt des Unternehmens – das Rezept stammt aus den Vierzigerjahren, die Kugelform gibt es seit 1967 – neuen Schub verleihen. Interessanterweise findet die klassische rote Lindor-Kugel auf der ganzen Welt Anklang.

 

«Die wichtigste Akquisition»

 

Lindt & Sprüngli ist es gelungen, auch 2014 kräftig zu wachsen. Um 17,4 Prozent kletterte der Umsatz auf 3,385 Milliarden Franken. Rund zur Hälfte hat dieser Umsatzsprung mit dem Zukauf der US-Traditionsmarke Russel Stover zu tun. «Die wichtigste Akquisiton der Firmengeschichte», wie es Firmenchef Ernst Tanner nennt. Damit sei man nun die Nummer 3 in Nordamerika, dem weltweit grössten Schokolademarkt. Auch ohne Russel Stover wäre der Umsatz kräftig gestiegen – das organische Wachstum belief sich auf 9,8 Prozent. Unter dem Strich zeigt Lindt & Sprüngli fürs vergangene Jahr einen Reingewinn von 342,6 Millionen Franken (+13,1 Prozent). Auch dies ein neuer Rekordwert.

Beim eigenen Verkaufsnetz von derzeit 275 Läden sieht Lindt & Sprüngli im Übrigen «immenses Potenzial». Zumal der Detailhandel diese Entwicklung laut Tanner überhaupt nicht kritisch sieht – im Gegenteil. Die beiden Verkaufskanäle würden sich gegenseitig befruchten. Die ganze Produktevielfalt zu präsentieren, sei aber nun mal nur in eigenen Läden möglich.

Wie stark Lindt & Sprüngli unterwegs ist, zeigen auch die neusten Zahlen von Chocosuisse, der Vereinigung der wichtigsten Schweizer Schokoladehersteller. Mit einer um knapp 4900 Tonnen auf 183’738 Tonnen gesteigerten Verkaufsmenge konnte der Branchenumsatz 2014 um 2,7 Prozent auf 1,728 Milliarden Franken gesteigert werden. Lindt & Sprüngli allein legte in der Schweiz um 6,8 Prozent zu. (hb)

pdf Südostschweiz (13.03.2015)