Das Woodstock Europas

In Rudolstadt im deutschen Thüringen hat am ersten Juli-Wochenende 2019 zum 29. Mal das weltbekannte Folk-, Roots- und Weltmusikfestival stattgefunden. Ein Anlass, der weit über das Musikalische hinausgeht und deshalb auch das Woodstock Europas genannt wird.

von Hans Bärtsch

Wo beginnen bei einem Anlass, der auf rund zwei Dutzend Bühnen 130 Einzelkünstler und Bands aus knapp 50 Ländern zu 300 Konzerten versammelt und bei der 29. Durchführung rund 100’000 Menschen anzieht? Vielleicht mit dieser Begegnung Samstagnacht, als der Schreibende bei seiner Rudolstadt-Premiere von Gesang aus einem Restaurant-Innenhof angelockt wird. Strassenmusiker, die sich zufällig über den Weg gelaufen sind, geben die Partisanen-Hymne «Bella Ciao» zum Besten. Sie sitzen mitten in einem ebenso zufällig zusammengekommenen Publikum, das bier- und weinselig mittut. Auch wenn bei der xten Strophe den meisten die richtigen Worte fehlen, ein «La la la…» genügt vollauf, und der Refrain ist ja keine Hexerei. Ein kunterbuntes Miteinander ist die anschliessende, von einem Alt-Hippie vom Zaun gerissene Ossie/Wessie-Diskussion – Rudolstadt ist ehemaliges DDR-Territorium und Ost/West-Gegensätze auch 30 Jahre nach der Wende noch immer vielerorts präsent.

Politische Diskussionen

Das Rudolstadt-Festival startete in den Fünfzigerjahren als sozialistisches Tanzfest, ab 1989 war es ein linkes Folkfestival, das Protestsängern aller Gattung eine Plattform bot. Damit zusammenhängend auch politischen Diskussionen, die sich bis heute gehalten haben. Heuer beispielsweise in Form des Gastlandes Iran. Vorwiegend emigrierte Sängerinnen und Musiker brachten Werke dar, die ihnen in ihrer Heimat verboten oder zumindest nicht gern gesehen sind. Mit Podien, Talkshows und Workshops lassen sich solche Begegnungen mit fremden Kulturen jeweils vertiefen.

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Einer der Schauplätze des Rudolstadt-Festivals: die Heidecksburg. (Bild Michael Pohl/Pressedienst)

 

Es ist diese einzigartige Mischung aus Gross- und Kleinstkonzerten in allen Ecken dieses reizvollen Städtchens, sehr aufmerksamen, neugierigen Besucherinnen und Besuchern, einer Atmosphäre grossen Respekts vor dem Anders- und Fremdartigen, Mitmachtanz- und konzertbegleitenden Anlässen sowie spontanen Strassenauftritten, die dieses Festival prägen und abheben lassen von andern, die nur noch belanglosen Eventcharakter haben. Rudolstadt ist längst zu so etwas wie einem Woodstock en miniature geworden, wo sich Gleichgesinnte Jahr für Jahr generationenumspannend treffen.

Polka aus Kuba via Minsk

In Rudolstadt wird jeweils auch die «Ruth» vergeben, der deutsche Weltmusikpreis. Für sein Lebenswerk wurde diesmal der Bayer Rudi Zapf und sein Begleitensemble Zapf’nstreich ausgezeichnet. Wie verdient das ist, zeigte der Maestro des Hackbretts mit einer fulminanten Darbietung. Das Repertoire umfasste Stücke aus Frankreich, Kreta, Serbien, Andalusien, Brasilien.  Eine Polka aus Kuba durfte nicht fehlen, die er via Musikerinnen aus Minsk in Weissrussland und ein bis zwei Flaschen Wodka, so die Anekdote, mitbekommen hat. Eine spezielle Version von «Take Five» (bekannt geworden durch den Jazzmusiker Dave Brubeck) und zum Schluss ein gekonnt mit exotischen Klängen angereicherter Zwiefacher aus seiner Münchner Heimat rundeten eine Konzertstunde ab, die einen nur staunen liess ob des Betätigungsfeldes für ein Instrument, das Zapf in immer neue Sphären führt.

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«Ruth»-Gewinner: Hackbrettspieler Rudi Zapf wird für sein Lebenswerk geehrt. (Bild Matthias Kimpel/Pressedienst)

 

Auf seine Weise einzigartig ist der ebenfalls mit einer «Ruth» beehrte Gankino Circus. Das fränkische Quartett ist musikalisch ebenso virtuos wie kabarettistisch beschlagen. Die kauzigen Charakterköpfe geben etwa einem griechischen Sirtaki mit einer Bohrmaschine das besondere Gepräge. Als roter Faden dienen Geschichten über Weizen-Charly, Wirt in jenem Lokal, in dem die  Vier ihre Jugendjahre verbracht haben. Dass dieser Weizen-Charly über einem Bier verstorben ist, mag nicht sonderlich zu erstaunen. Dass der Gankino Circus dann auf den alten Knochen des Wirts – einem Bonofon – musiziert, schon eher. Es ist zum Brüllen komisch.

Grosse Aufmerksamkeit

Ein wunderbares Konzert lieferte im Weiteren Herbert Pixner ab. Der Umgang des Südtiroler Multiinstrumentalisten mit alpenländischer Volksmusik macht vor gar nichts Halt – weder vor Tango, Rock noch Gypsie-Jazz und Blues. In der Regel tönt das heiter, beschwingt, mitreissend. Ausser wenn Pixner die düstere Saga des «Sennentuntschi» vertont, dann wirds zu einem Melodrama. Auch hier rundet ein Zwiefacher einen grossartigen Auftritt ab, zu dem der Bandleader anmerkt, selten vor einem derart aufmerksamen Festivalpublikum gespielt zu haben.

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Ein letzter Höhepunkt: Die Americana-Band Cowboy Junkies beschliesst das Rudolstadt-Festival 2019. (Bild Jörg M. Unger/Pressedienst)

 

Ein Aussage, die vermehrt zu hören war am vergangenen Wochenende. Etwa von Die höchste Eisenbahn. So seltsam der Bandname, so betörend der mit klugen Texten verknüpfte Indie-Pop. Aus ihrem neuen, im August erscheinenden Album gabs schon mal das eine oder andere Müsterchen. Der kanadischen Formation Cowboy Junkies war es dann vorbehalten, das Rudolstadt 2019 zu beschliessen. Schwermut und Traurigkeit dominieren ihren Alternative Country genannten Musikstil, gleichwohl ist es einer der lichtesten Momente des viertägigen Festivals – dank einer berauschenden Intensität und Klangqualität. Letztes lässt sich ja nicht gerade von vielen Open-Air-Bühnen sagen. Ein weiteres Qualitätsmerkmal von Rudolstadt.

 

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50 Jahre Woodstock

Mitte August 2019 werden es genau 50 Jahre her sein, dass im US-Bundesstaat New York das Woodstock-Festival stattfand – die Mutter aller Open-Air-Anlässe. Es war der Höhe-, aber gleichzeitig auch eine Art Endpunkt der Hippie-Bewegung. Folkmusik war die Basis etlicher Darbietungen, erinnert sei an KünstlerInnen wie Joan Baez, Richie Havens, Arlo Guthrie, John Sebastian oder Crosby, Stills & Nash.

Fast reine Folkfestivals waren in der Schweiz in den Anfangsjahren beispielsweise auch das Paléo in Nyon, St. Gallen oder das Gurten in Bern. Alle drei haben sich längst gewandelt, wobei am Paléo der Worldmusik-Anteil immer noch erfreulich gross ist. Beim Rudolstadt-Festival steht das Folk zwar noch im Name, die Begriffe Roots und Weltmusik werden dem Gebotenen aber gerechter. Gleichwohl kommt das Rudolstadt von den genannten Festivals vom Charakter her dem «Woodstock-Feeling» wohl am nächsten. (hb)

Südostschweiz (11.07.2019)

 

 

Rudolstadt (MDR Kultur)