Das Beste 2023 (TV-Serien)

Eine Überserie («Succession»), zweimal das Thema Spitzengastronomie («The Bear» und «Boiling Point»), diverse herausragende Dramen («Happy Valley», «Blue Lights», «Fauda») und auch einiges fürs Gemüt («Ted Lasso», «Somebody Somewhere», «Die Wespe»). Mit dem TV-Serien-Jahr 2023 könnte die Ära der Streamingdienste, die Milliarden in neue Inhalte pumpen, den Scheitelpunkt erreicht haben. Denn sie alle (abgesehen von Netflix) schreiben tiefrote Zahlen. Das wird Einfluss auf künftige Angebote haben. Geniessen wir die Riesenauswahl also noch, solange es sie gibt. Eine Enttäuschung waren – einmal mehr – internationale Kooperationen von öffentlich-rechtlichen Sendern, zum Beispiel «Der Schwarm» und «Die Saat». Dafür hat die BBC mit grossartigen Miniserien geglänzt.

«Succession» – Schlussstaffel 4 (HBO/Sky)
Besser geht Serienerzählen schlicht nicht; und dies bis zur allerletzten Szene. Der Machtkampf um ein Medienimperium eskaliert, nachdem das Familienoberhaupt verstorben ist. Für Logan Roy waren seine Kinder allesamt Luschen, für die Zuschauenden bleiben die Figuren durchs Band unsympathisch. Wie konsequent!

«Happy Valley» – Schlussstaffel 3 (BBC One)
Das Leben in einer britischen Kleinstadt gerät für eine Polizistin wegen eines Mörders und Sexualstraftäters aus den Fugen. Erneut. Dazu kommt ihre baldige Pensionierung. Emotional eine der intensivsten Serien mit tiefem Blick in die Abgründe des menschlichen Wesens.

«Fauda» – Staffel 4 (Netflix)
Im Moment ist der Konflikt im Nahen Osten ja ein äusserst realer. «Fauda» ist Fiktion. Aber auch ein Erklärstück, warum die israelisch-palästinensische Beziehung derart hoffnungs- und ausweglos ist. In diesem Sinne hat diese Serie etwas Visionäres, zumal es diesmal um eine Geiselbefreiung in Gaza geht.

«Blue Lights» – Staffel 1 (BBC One)
Drei Polizeirekruten müssen sich in Belfast bewähren. Was alles andere als einfach ist. Denn: Wem lässt sich auf der Strasse und bei der eigenen Einheit vertrauen? Nordirland ist noch heute ein Minenfeld – das zeigt der erschütternde Verlust eines der erfahrensten Beamten mit aller Heftigkeit.

«Boat Story» – Miniserie (BBC One)
Eine Mischung aus Quentin Tarantino und den Coen Brothers. Eigentlich ein Actionthriller, aber erzählt mit viel dunkelschwarzem Humor. Zwei komplett unterschiedliche Menschen kommen durch einen Zufall bei einem gestrandeten Boot zueinander und stolpern danach von einem Problem zum nächsten. Wie der eigentliche Bösewicht durch die Liebe (fast) vom Weg abkommt, ist einer der grossartigsten Einfälle der jüngeren TV-Serien-Geschichte.

«The Woman In The Wall» – Miniserie (BBC One)
Wer die unglaubliche Ruth Wilson noch nie in Aktion sah, hier ist ihre perfekte Spielwiese. In diesem Mysterythriller leidet sie an extremen Anfällen von Schlafwandeln. Und kann sich entsprechend nicht erklären, was es mit der Leiche in ihrem Haus auf sich hat. Dass zum Schluss ein bisher unveröffentlichter Song von Sinéad O’Connor erklingt, ist kein Zufall, denn auch sie hat ein Kind verloren. Mehr sei nicht verraten.

«Boiling Point» – Miniserie (BBC One)
Die Serien-Fortsetzung des gleichnamigen Erfolgsfilms. Diesmal gibt Sous-Chef Carly den Ton in der Küche des «Point North» im britischen Dalston an, während ihr Mentor sich von einem Herzinfarkt erholt. Die Zutaten sind die üblichen: Riesenstress im Job und ein kompliziertes Privatleben, das alles in einer krisengeschüttelten Branche. Erzählt ist die Geschichte famos.

«The Bear» – Staffeln 1 und 2 (Disney+)
Das eben Gesagte gilt auch für diese Serie, die ennet dem Teich in Chicago spielt (plus einem Abstecher nach Kopenhagen). Was selten vorkommt: Staffel 2 ist noch stärker als die von der Kritik bereits hochgelobte erste Staffel (in die ich zugegebenermassen fast nicht reingefunden habe anfänglich). Die Steigerung hat mit der Charakterzeichnung der Figuren zu tun, die sehr tief geht.

«Slow Horses» – Staffel 3 (Apple TV+)
Eine Spionage-Serie, von der ich letztes Jahr gesagt habe, man hätte es auch bei einer Staffel belassen können. Was für ein Irrtum. Die «lahmen Gäule» kommen hier zum dritten Mal in Fahrt, angetrieben vom unverändert mürrischen, aber höchst cleveren Jackson Lamb (Gary Oldman). Staffel 4 soll bereits im Kasten sein. Weiter so!

«Somebody Somewhere» – Staffeln 1 und 2 (HBO/Sky)
Eine US-Kleinstadt und queere Freundschaften. Das passt ja wie die Faust aufs Auge. Trotz aller Schwierigkeiten bildet sich hier eine Gemeinschaft von Aussenseitern. Das rührt alle paar Minuten zu Tränen und ist eine der herzerwärmendsten Serien überhaupt.

«Ted Lasso» – Schlusstaffel 3 (Apple TV+)
Apropos herzerwärmend: Dieses Attribut gilt natürlich auch für diese Serie um den Trainer einer britischen Fussballmannschaft, der von seiner Herkunft her (USA) eigentlich nur von Football eine Ahnung hat. Ehrlich gesagt bin ich froh, haben die Macher ein Ende gefunden, das nicht enttäuscht. Denn die Qualität der einzelnen Folgen schwankte zwischendurch doch bedenklich.

«Die Wespe» – Staffel 3 (Sky)
Und gleich noch eine Wohlfühlserie. Dart-Legende Eddie Frotzke trifft auf seinen verhassten Bruder Ecki. Und auf ein Teenie, das behauptet, seine Tochter zu sein. Was nicht von der Hand zu weisen ist, denn auch sie hat grosses Talent im Pfeile werfen.

«The Diplomat» – Staffel 1 (Netflix)
Diplomatie kann kompliziert sein. Insbesondere, wenn man als Frau in einer globalen Krisensituation von den USA auf einen entsprechenden Posten im Vereinigten Königreich beordert wird und dabei der Ehemann (ein Starpolitiker) dauernd in die Quere kommt. Mit der Realität hat das Ganze wohl nicht viel zu tun, aber enorm spannend und unterhaltsam ist es allemal.

«Yellowstone» – Staffel 5 (Paramount)
Langsam aber sicher neigt sich diese epische Serie um eine Viehzüchterfamilie in Montana ihrem Ende entgegen. Auch wenn es bereits Ableger gibt («1883», «1923»), hier werde ich eine Träne verdrücken. Denn zu sehr haben einem die Kreativköpfe die Figuren ans Herz wachsen lassen.

«Inside No. 9» – Staffeln 7 und 8 (BBC/Arte)
Rabenschwarze Anthologie-Serie, in der es in irgendeiner Form immer um die Zahl 9 geht. Ob Kammerspiel, Horror, Slapstick: Jede Folge ist anders. Und überrascht entsprechend. Sehr innovatives Serienformat.

Ebenfalls gern gesehen (nicht alles mit Entstehungsjahr 2023):

«Beef» – Staffel 1 (Netflix)
«Best Interests» – Miniserie (BBC One)
«Billions» – Schlussstaffel 7 (Sky)
«Cunk On Earth» – Staffel 1 (BBC Two)
«Der Pass» – Schlussstaffel 3 (Sky)
«Derry Girls» – Staffeln 1 bis 3 (Channel 4/Netflix)
«Die nettesten Menschen der Welt» – Miniserie (ARD)
«Hijack» – Miniserie (Netflix)
«Jeux d’influence – Les Combattantes (Giftige Saat)» – Staffeln 1 und 2 (Arte)
«Justified: City Primeval» – Miniserie (Disney+)
«Karen Pierie (The Killer Is Coming Home)» – Staffel 1 (ITV/ZDF)
«Liebes Kind» – Miniserie (Netflix)
«Maestro (In Blue)» – Miniserie (Netflix)
«Nackt über Berlin» – Miniserie (Arte/ARD)
«Never Have I Ever» – Staffel 4 (Netflix)
«Secret City» – Staffeln 1 und 2 (Netflix)
«Sex Education» – Schlussstaffel 4 (Netflix)
«Silo» – Staffel 1 (Apple TV+)
«Sky Rojo» – Schlussstaffel 3 (Netflix)
«Steeltown Murders» – Miniserie (BBC)
«Subburæterna» – Staffel 1 (Netflix)
«The Gold» – Miniserie (BBC One)
«The Last Of Us» – Staffel 1 (HBO/Sky)          
«The Night Agent» – Staffel 1 (Netflix)
«Thunder In My Heart» – Staffeln 1 und 2 (SWR)
«Trigger Point» – Miniserie (ITV/ZDF)
«Tschugger» – Staffel 3 (SRF)
«Vigil» – Staffel 2 (BBC One)
«We Hunt Together» – Staffel 1 (Alibi/BBC)
«Wolf» – Staffel 1 (BBC One/BBC Wales)
«Your Honor» – Staffel 2 (Showtime)

Das Beste 2023 (Musik)

In meiner Lieblingsmusiksendung «Sounds!» auf SRF 3 war es dieses Jahr mehr als einmal ein Thema – dass es kaum mehr Alben gibt, die über die ganze Länge überzeugen. Ich mag dem nicht so recht zustimmen, denn: Hat man nicht schon immer den einen oder anderen Song auf einer Platte übersprungen, weil er einem nicht gefiel, weil er nicht passte, weil er abfiel vom Rest oder schlicht Schrott war? 2023 war tatsächlich nicht das grösste Jahr in Sachen Longplayer, die von A bis Z zu gefallen wissen. Das eine oder andere hat meinen Ohren – quer durch alle Stile und Genres – aber doch viel Freude bereitet. Der Streamingdienst Spotify nennt es in seiner ganzen Hilflosigkeit Crank Wave (und im vergangenen Jahr Chamber Psych). Wer mich heuer aufgrund von einzelnen Songs oder Konzerten am meisten überzeugt hat, wartet übrigens erst 2024 mit einem neuen Album auf: Grandaddy, Manu Delago und Slowshift.

A. Savage, «Several Songs About Fire»
Amerikanischer Singer/Songwriter mit angenehmer Stimme, grossartigem Liedmaterial und unaufgeregter, halbakustischer Darbietung.

Bdrmm, «I Don’t Know»
Stoisch-pulsierende Rhythmen, ein Bass, der voranschreitet, verschwommene Stimmen. Und dann – wumms – kracht es auch mal. Britischer Shoegaze.

Creation Rebel, «Hostile Environment»
40 Jahre, nachdem sie in Grossbritannien eine Brücke zwischen Reggae und Punk schlugen, kommt aus dem Nichts ein neues Werk der Dub-Legende (Hausband von On-U Sound Records).

D.K. Harrell, «The Right Man»
Blues im Stil von B.B. King. Von einem Amerikaner Mitte 20, der alle Songs selbst schreibt. Ein Debütalbum, wie man es besser nicht machen kann.

Eddie Chacon, «Sundown»
Die eine Hälfte des R&B-Duos Charles & Eddie überrascht mit einer Sammlung von feinen, soulig-sanften, von viel Sonne getränkten Liedern.

Föllakzoid, «V»
Minimalistischer, psychedelischer Neokrautrock aus Chile. Auch dieses fünfte Album mit wiederum überlangen Stücken ist geeignet, einen in Trance zu versetzen.

Gaz Coombes, «Turn The Car Around»
Sagen wir dem, was der Supergrass-Sänger hier macht, Post-Britpop. Epische Kunstwerke, auf Melodien bauend, die schlicht göttlich sind.

John Southworth, «When You’re This, This Is Love»
Der «Rolling Stone» nennt es dylaneske Folk-Rock-Hymnen. Wobei die Grenze zwischen somnambul und stinklangweilig manchmal schmal sei. Für mich überschreitet dieser britisch-kanadische Musiker diese Grenze nie.

London Brew, –
Miles Davies «Bitches Brew» von 1969 stand der brodelnden Londoner Jazzszene Pate. Entstanden ist ein nicht minder aufregendes Anknüpfungsalbum.

Robert Finley, «Black Bayou»
Funkig-bluesiger Soul, wie es intensiver kaum geht. Von einem Musiker, der seine Karriere eigentlich ad acta legen wollte. Typischerweise produziert von Dan Auerbach (Black Keys).

Shana Cleveland, «Manzanita»
Vom Surf-Rock ihrer Band La Luz ist dieses Soloalbum ein gehöriges Stück entfernt. Hier dominiert dunkler, ruhiger, enorm eingängiger Folk.

Tian Qiyi/Jah Wobble, «Red Mist»
Manchmal klingt die Wut von PIL an, wo Jah Wobble einst den Bass bediente. Hier musiziert der Brite mit seinen Söhnen. Asiatische Klänge treffen auf Jazz, Postpunk und viel Dub.

Ebenfalls gern und oft gehört:

Anohni & The Johnsons, «My Back Was A Bridge For You To Cross»
Aksak Maboul, «Une Aventure de VV (Songspiel)»
Altin Gün, «Aşk»
Avalon Emerson & The Charm, –
Beirut, «Hadsel»
Black Country, New Road, «Live At Bush Hall»
Black Pumas, «Chronicles Of A Diamond»
Blur, «The Ballad Of Darren» (Deluxe)
Bob Dylan, «Fragments – Time Out Of Mind Sessions 1996-97 (The Bootleg Series Vol. 17)»
Bob Dylan, «Shadow Kingdom»
Bombay Bicycle Club, «My Big Day»
Boygenius, «The Record»
Caroline Rose, «The Art Of Forgetting»
Clientele, «I Am Not There Anymore»
Coral, «Sea Of Mirrors»
Durand Jones, «Wait Til I Get Over»
Element of Crime, «Morgens um vier»
Everything But The Girl, «Fuse»
Fire feat. Adrian Sherwood, «Fire»
Gabriels, «Angels & Queens» (Deluxe Edition)
Gorillaz, «Cracker Island»
Guiding Star Orchestra, «Communion»
Hauschka, «Philanthropy»
Israel Nash, «Ozarker»
Jah Myhrakle, «Who Keeps The Seals Dub»
Jah Wobble, «Dark Luminosity: The 21st Century Collection»
Jaimie Branch, «Fly Or Die Fly Or Die Fly Or Die ((World War))»
Jalon Ngonda, «Come Around And Love Me»
Jonathan Wilson, «Eat The Worm»
Jungstötter, «One Star»
Kino Doscun/Youthie, «Sahar» (EP)
Lana Del Rey, «Did You Know That There’s A Tunnel Under Ocean Blvd»
Les Yeux D’La Tête, «Paris Berlin (live)»
Louis Jucker, «Suitcase Suite»
Marlene Ribeiro, «Toquei No Sol»
Mavericks, «In Time (10th Anniversary Deluxe)»
Muse, «Absolution XX Anniversary»
Nick Waterhouse, «The Fooler»
Niklas Paschburg, «Panta Rhei»
Panda Bear/Adrian Sherwood, «Reset In Dub»
Pretenders, «Relentless»
Queens Of The Stone Age, «In Times New Roman…»
Robert Forster, «The Candle And The Flame»
Róisín Murphy, «Hit Parade»
Rolling Stones, «Hackney Diamonds»
Roman Nowka’s Hot 3/Stephan Eicher, «Kunscht isch geng es Risiko» (EP)
Rufus Wainwright, «Folkocracy»
Sam Burton, «Dear Departed»
Say She She, «Silver»
Shantel, «Metrópolis»
Sigur Rós, «Átta»
Skinny Pelembe, «Hardly The Same Snake»
Slowdive, «Everything Is Alive»
Sparks, «The Girl Is Crying In Her Latte»
Steven Wilson, «The Harmony Codex»
Sufjan Stevens, «Javelin»
Teenage Fanclub, «Nothing Lasts Forever»
Temples, «Exotico»
The Arcs, «Electrophonic Chronic»
The Necks, «Travel»
The Waeve, «The Waeve»
The 18th Parallel, «Downtown Sessions»
To Athena/Esmeralda Galda, «Wältuntergang» (EP)
Yves Tumor, «Praise A Lord Who Chews But Which Does Not Consume (Or Simply, Hot Between Worlds)»
Wilco, «Cousin»
Züri West, «Loch dür Zyt»

Slowshift am 3.11. im Rahmen des Iceland Airwaves 2023 in der Fríkirkjan. (Bild Hans Bärtsch)

Singles/Einzelsongs:

All Hands_Make Light, «We Live On A Fucking Planet And Baby That’s The Sun»
Christian Kjellvander/Tonbruket, «September Weather»
Coral, «The Sinner»
En Attendant Ana, «Wonder»
Grandaddy, «Cabin In My Mind»
Ian Brown, «Rules»
Justina Lee Brown, «Billiki»
Kassi Valazza, «Watching Planes Go By»
King Hannah, «Like A Prayer»
Louis Cato, «Unsightly Room»
Maxim Helincks, «River»
Olivia Rodrigo, «Vampire»
Pip Blom, «Tiger»
Slowshift, «Sir» (feat. Gordi), «End Up» (feat. Fay Wildhagen und Kristian Kristensen) und «Every Kind Of L»
Sparklehorse, «The Scull Of Lucia»
Vera Sola, «Desire Path»

Justina Lee Brown mit einem Gospelprojekt am 23.11. in der katholischen Kirche Sargans. (Bild Hans Bärtsch)

Das Beste 2022 (Musik)

Ein seltsames Musikjahr, wenn ich mir die ganzen Bestenlisten anschaue. Noch selten fühlte ich mich weniger Zuhause bei den Wertungen von durchaus geschätzten Musikjournalistinnen und -journalisten. Wobei… stimmt nicht ganz, es gab einige sogenannten Konsensalben, hinter denen fast alle stehen und die praktisch in jeder Liste auftauchen. Einige von denen gehören auch für mich zu den besonderen Hörerlebnissen. Danebst gab es aber noch viel mehr zu entdecken. Hier meine Favoriten 2022, quer durch verschiedenste Musikstile und in alphabetischer Reihenfolge.

Konsensalben
Björk, «Fossora»
Black Country, New Road, «Ants From Up There»
Cate Le Bon, «Pompeii»
Danger Mouse & Black Thought, «Cheat Codes»
Elvis Costello & The Imposters, «The Boy Named If»
Fontaines D.C., «Skinty Fia»
Kendrick Lamar, «Mr. Morale And The Big Steppers»
Rosalía, «Motomami»
Sault, Diverse (u.a. «Air»)
The Smile, «A Light For Attracting Attention»
Tocotronic, «Nie wieder Krieg»
Wet Leg, «Wet Leg»
Weyes Blood, «And In The Darkness, Hearts Aglow»
Wilco, «Cruel Country»

Lieblingsalben
Action & Tension & Space, «Tellus»
Andrew Bird, «Inside Problems»
Animale Triste, «Night Of The Loving Dead»
Arctic Monkeys, «The Car»
Beirut, «Artifacts»
Brian Jackson, «This Is Brian Jackson» (inkl. Instrumentals)
Buddy Guy, «The Blues Don’t Lie»
C Duncan, «Alluvium»
Calexico, «El Mirador»
Daniel Rossen, «You Belong There»
Dean Owens, «Sinner’s Shrine»
Ernst Molden, Ursula Strauss, Herbert Pixner u.a., «Oeme Söö»
Faber, «Orpheum (live)»
Fai Baba, «Veränderet»
Gabriels, «Angels & Queens – Part I»
Hermanos Gutiérrez, «El Bueno Y El Malo»
Horace Andy, «Rockers And Scorchers»
Jack White, «Entering Heaven Alive»
Júníus Meyvant, «Guru»
King Gizzard & The Lizard Wizard, «Ice, Death, Planets, Lungs, Mushrooms And Lava»
King Hannah, «I’m Not Sorry, I Was Just Beeing Me»
Makaya McCraven, «In These Times»
Michael Head & The Red Elastic Band, «Dear Scott»
Pumajaw, «Scapa Foolscap»
Run Logan Run, «Nature Will Take Care Of You»
Spiritualized, «Everything Was Beautiful»
Spoon, «Lucifer On The Sofa»
Stahlberger, «Lüt uf Fotene»
Suede, «Autofiction»
Tami Neilson, «Kingmaker»
The Jazz Butcher, «The Highest In The Land»
Tommy McLain, «I Ran Down Every Dream»
Wanda, «Wanda»
Young Gods, «Play Terry Riley in C»

Einzelsongs/EPs
Bdrmm, «Three»
Binker & Moses w. Max Luthert, «Accelerometer Overdose»
Dry Cleaning, «Driver’s Story»
Gogol Bordello, «Blueprint»
Lee Fields, «Save Your Tears For Someone New»
Martin Miller/Kirk Fletcher, «Sunshine Of Your Love»
Mattiu, «Sur La Selva» (EP)
Phoebe Bridgers, «So Much Wine» (EP)
Warhaus, «Open Window»

Compilations/Reissues/Live
Beach Boys, «Sail On, Sailor»
Beatles, «Revolver»
Coral, «The Coral»
Creedence Clearwater Revival, «At The Royal Albert Hall (1970)»
David Bowie, «Divine Symmetry»
Franz Ferdinand, «Hits To The Head»
Dennis Bovell, «The Dubmaster: The Essential Anthology»
King Size Dub 25 (Diverse)
Wilco, «Yankee Hotel Foxtrot»



Das Beste 2022 (TV-Serien)

Nein, ich neige nicht zur Bequemlichkeit. Aber da die eigene Halbjahresbilanz – für mich zumindest – auch zum Ende von 2022 Bestand hat, lasse ich sie unverändert so stehen (siehe weiter unten). Und ergänze hier folglich nur noch, was in den zweiten sechs Monaten hinzugekommen ist. Etwa die Schlussfolgen von «Better Call Saul», die aus einem Pre- ein Sequel werden lassen. Die Macher dieser Serie haben offenbar von Anfang bis zum Ende haargenau gewusst, was sie machen. Vor allem, wie die Geschichte stimmig zum Abschluss gebracht wird – etwas, das die Kreativköpfe hinter «Dexter» auch mit einer zusätzlichen neunten Staffel mit dem Namen «Dexter – New Blood» auf keine Art und Weise imstande waren. Beim Überraschungserfolg «Slow Horses» ist bereits eine zweite Staffel hinzugekommen. Auch diese bietet beste Unterhaltung; mir hätte allerdings eine erste (und einzige) Miniserie gereicht, die Ausgangslage – eine Zwangsgemeinschaft gescheiterter MI5-Spione – dürfte sich recht rasch ausreizen.

Trailer zu «The White Lotus», Staffel 2.

So, und nun wirklich zu den ganz neuen Sachen 2/2022:
«Bad Sisters» (Apple TV+): Ja, diese Schwestern sind böse und schlecht, wollen sie Grace (eine von ihnen) doch von ihrem fiesen Ehemann befreien. Und scheitern immer wieder. Wer schwarzen britischen Humor liebt, ist hier am richtigen Ort.
«Lauchhammer – Tod in der Lausitz» (Arte): Um es mit den Worten der FAZ zu sagen: Im sechsteiligen Krimi geht es um ein Verbrechen von heute und um Unrecht zu DDR-Zeiten. Die vom Tagebau geschundene Landschaft ist grossartig gefilmt, die Schauspieler sind bestechend.
«The White Lotus» (HBO/Sky Show): Statt Hawaii, wie in Staffel 1, ist der Schauplatz nun Sizilien. Als tragische Figur mit dabei ist nur noch Jennifer Coolidge. Diese Gesellschaftssatire hat den richtigen Biss, verbunden mit der Erkenntnis, dass Reichsein mit ziemlich vielen Nachteilen verbunden sein kann.
«We Own This City» (HBO/Sky Show): In der amerikanischen Grossstadt Baltimore reagieren Korruption, Polizeigewalt und Misswirtschaft. Diese Serie, hinter der erneut Drehbuchautor David Simon steht, ist quasi die Fortsetzung von «The Wire». Und genau so deprimierend, steht zum Schluss doch die Wahl eines gewissen Donald Trump zum US-Präsidenten an, der gewisse Fortschritte beim Ausmisten dieses Augiasstalls wieder rückgängig machen könnte.
«Dahmer» (Netflix): In mancher Hinsicht sind die USA eine Bananenrepublik (siehe auch «We Own This City»). Bei der Geschichte dieses Serienmörders (und Kannibalen) hat die Polizei lange Zeit Hinweise auf das grausige Tun des Jeffrey Dahmer in der Schwulenszene von Milwaukee ignoriert. Unfassbar.
«Höllgrund» (SWR): Warum bloss werden gewisse Mehrteiler wie dieser grossartige Krimi in den jeweiligen Mediatheken (hier: ARD) «versteckt»? Verstehe das, wer will. Jedenfalls führt «Höllgrund» mit viel schwarzem Humor in die Abgründe eines Schwarzwalddorfes. Eine hartnäckige Polizistin geht der Reihe von mysteriösen Todesfällen nach, die sich dort ereignen.
«Tschugger» (SRF/Sky Show): Die zweite Staffel von «Tschugger» war schon abgedreht, als die erste 2021 zu einem Grosserfolg fürs Schweizer Fernsehen wurde. Jetzt geht es bei Bax, Smetterling und Co. noch Verrückter zu und her auf der Jagd nach richtigen und falschen Gangstern. Überaus witzige Krimikomödie aus dem Wallis.

Ab hier die unveränderte Halbjahres-Bestenliste 2022:

  1. «Better Call Saul» (Netflix). Fünf Folgen sind zwar noch ausstehend, aber die Schlussstaffel dieses Prequels von «Breaking Bad» schlägt alles in Sachen schier schmerzhaft langsamer, aber dennoch absolut konziser, kunstvoller Erzählweise. Und über allem steht die Frage: Was wird aus Kim Wexler, der besseren Hälfte des halbseidenen Anwalts Jimmy McGill alias Saul Goodman?
  2. «Stranger Things» (Netflix). In der zweitletzten Staffel dieser Science-Fiction-Mysteryserie geht es düsterer zu und her als bislang. Gleichzeitig ist die in den Achtzigerjahren in einer amerikanischen Kleinstadt angesiedelte Geschichte um Jugendliche, die mit dem Bösen zu kämpfen haben, unglaublich spannend und unterhaltsam. Ach ja: Dass Kate Bush neuerlich zu Hitparaden-Ehren gekommen ist durch «Stranger Things», dürfte inzwischen Allgemeinwissen sein.
  3. «Severance» (Apple TV+). Die Ironie an dieser Serie ist, dass sie die Arbeitswelt eines Unternehmens zeigt, das auch Apple sein könnte. Die Angestellten werden einem Eingriff unterzogen, die ihre Erinnerungen in die Arbeits- und die Privatwelt unterteilt. Bloss geht das nicht immer ganz reibungslos – mit entsprechenden Konsequenzen. Fortsetzung folgt.
  4. «Slow Horses» (Apple TV+). Britische MI5-Agenten, die versagt haben, landen im Slough House und werden dort von einem konstant schlechtgelaunten Jackson Lamb (grossartig: Gary Oldman) mit sinnlosen Aufgaben gepiesakt. Dass die «alten Gäule» doch noch etwas können, zeigt sich indes schon recht bald.
  5. «Euphoria» (Sky Show). Natürlich kann man darüber diskutieren, wie krass man das Leben von (drogenabhängigen) Jugendlichen zeigen muss – Staffel 1 gab diesbezüglich gehörig zu reden. Rue (gespielt von Zendaya) erneut durch ihre (wenigen) Hochs und (deutlich mehr) Tiefs zu folgen, tut richtiggehend weh. Aber so ist es nun mal, wenn der Gefühlshaushalt verrückt spielt.
  6. «Der Pass» (Sky Show). Als eine junge Touristin in der Nähe von Salzburg tot aufgefunden wird, müssen deutsche und österreichische Kriminalpolizei erneut zusammenarbeiten. Ellie Stocker (Julia Jentsch) wie Gedeon Winter (Nicholas Ofzcarek) sind von der Jagd auf den Krampus-Killer in Staffel 1 derart angeknackst, dass man um beide ernsthaft fürchten muss. Eine der besten deutschen Thrillerserien.
  7. «After Life» (Netflix). Schwarzhumorig, wie es nur die Briten können. Ricky Gervais gibt den grantigen Witwer Tony. Allerdings ist nicht mehr alles Zynismus pur, sondern auch (vorsichtiger) Optimismus. Dass die Schlussstaffel 3 dieser Serie für Tony wie dessen Umfeld versöhnlich endet, ist das Allerschönste an ihr.
  8. «Ozark» (Netflix). Irgendjemand in dieser Serie um Geldwäscherei und Drogenkartelle, der nicht hochgradig borderline unterwegs ist? Nein. Überraschend ist bloss, wer gegen Schluss dieser finalen Staffel 4 auch noch (fast) durchdreht. Ohne zu viel zu verraten: Es endet nicht gut, was besonders im Fall von Ruth Langmore (Julia Garner) mehr als nur tragisch ist.
  9. «Yellowstone» (Sky Show). Das Drama um eine Familienranch, die John Dutton (Kevin Costner) mit aller Macht verteidigen will, erreicht immer neue Eskalationsstufen. Dass da auch Waffengewalt im Spiel ist, macht die Serie angesichts der aktuellen Diskussionen in den USA zum Thema eigentlich zu einem No-go. Gleichwohl kann ich diesen Neo-Western nur empfehlen.
  10. «Vigil» (BBC/Arte). Internationale Spionage, Friedensaktivisten und ein Mord an Bord eines Atom-U-Bootes: «Vigil – Tod auf hoher See» ist eine hochspannende Thriller-Serie und, völlig verdient, die erfolgreichste BBC-Serie des vergangenen Jahres.
  11. «Euer Ehren» (ARD). «Your Honor» ist zwar noch nicht allzu lange her, gleichwohl hat mir auch diese Adaption der Geschichte um einen Richter, der seinen straffällig gewordenen Sohn zu decken versucht, den Ärmel reingenommen. Beider Leben geraten komplett aus der Bahn und werden zu einem wahren Alptraum.
  12. «Love & Anarchy» (Netflix). Nicht mehr ganz so unbeschwert wie in Staffel 1, aber immer noch eine der warmherzigsten Serien überhaupt: Eine erfolgreiche Beraterin und ein junger IT-Experte haben bei der Arbeit in einem alteingesessenen Buchverlag ein Techtelmechtel. Und fordern damit sich selber heraus, genauso wie ihr Umfeld. Aus harmlosen Spielchen wird bitterer Ernst. Das ist in erster Linie unglaublich komisch.

Ebenfalls sehr gut gefallen haben mir (ergänzte Liste):
«All In» (Comedy-Miniserie; One)
«Borgen» (Politdrama; Netflix). Weil ich sie nie ganz fertiggeschaut hatte, habe ich zuerst die Staffeln 1 bis 3 nachgeholt, bevors an die ganz neue Staffel 4 ging.
«Clark» (Drama-Miniserie; Netflix)
«Gangs of London» (Staffel 2; Krimi/Drama; Sky Show)
«Red Light» (Drama-Miniserie; Arte)
«Sacha» (Drama-Miniserie; RTS/Arte)
«Schneller als die Angst» (Thriller-Miniserie; ARD)
«Shining Girls» (Mystery-Thriller; Apple TV+)
«The Responder» (Drama-Miniserie; BBC)
«The Stranger – Ich schweige für dich» (Drama-Miniserie; Netflix)
«Vorstadtweiber» (Schlussstaffel 6; Comedy/Drama; ORF)
«Why Women Kill» (Staffel 1; Comedy/Drama; ORF)
«Wilder» (Schlussstaffel 4; Krimi/Drama; SRF)
«Zerv – Zeit der Abrechnung» (Drama-Miniserie; ARD)

Ebenfalls geschaut, aber nur teilweise überzeugt haben mich:
«Beforeigners» – Staffel 2 (Science-Fiction; ARD)
«Blocco 181» – Miniserie (Crime/Drama; Sky Show)
«Bortført – The Girl From Oslo» – Miniserie (Drama; Netflix)
«Dexter – New Blood» – Schlussstaffel 9 (Drama; Sky Show)
«Die Beschatter» – Staffel 1 (Dramedy; SRF)
«Die Wespe» – Staffel 2 (Comedy; Sky Show)
«Eine ganz gewöhnliche Frau» – Miniserie (Drama; Arte)
«Einfach Maria» – Web-Miniserie (Comedy; MDR)
«Harry Wild – Mörderjagd in Dublin» – Staffel 1 (Krimikomödie; ZDF)
«Heartbreak High» – Staffel 1 (Teen-Drama; Netflix)
«Helsinki Syndrom» – Miniserie (Drama; NDR/Arte)
«Hors Saison (Nebensaison)» – Miniserie (Crime/Drama; RTS/Playsuisse)
«Killing Eve» – Schlussstaffel 4 (Drama; Starzplay)
«King Of Stonks» – Miniserie (Comedy; Netflix)
«Never Have I Ever» – Staffel 3 (Teenie-Komödie; Netflix)
«Sløborn» – Staffel 2 (Horror/Drama; ZDF Neo)
«Teheran» – Staffel 2 (Drama; Apple TV+)
«Totenfrau» – Miniserie (Crime/Drama; ORF/Netflix)
«The Old Man» – Staffel 1 (Drama; Disney+)
«Trom – Tödliche Klippen» – Miniserie (Drama; Arte)
«Woodstock 99» (Musik-Doku; Netflix)

Turbofolk und auch viele leisere Töne

Das europaweit wohl bedeutendste Roots-, Folk- und Weltmusikfestival im deutschen Rudolstadt hat dieses Jahr sein 30-Jahr-Jubiläum gefeiert. Mit einem Schwerpunkt auf den Ländern Ex-Jugoslawiens – und Gästen aus der Schweiz.

von Hans Bärtsch

«Sie gehen bestimmt ans Tanzfest – viel Vergnügen!» Die Anbieter von Unterkünften im weiteren Umkreis von Rudolstadt wissen, wer bei ihnen jeweils Anfang Juli zu Gast ist. Und beginnen ohne Umschweife zu erzählen von eigenen Besuchen und unvergesslichen Konzerten in der schönen Altstadt, auf der darüber thronenden Heidecksburg oder im ausladenden Heinepark an der Saale.

Berührend: Die alten Balkangesänge der Zwillinge Ratko und Radiša Teofilović. (Bild Hans Bärtsch)

Getanzt wurde dort schon Mitte der 1950er-Jahre zu DDR-Zeiten. Das «Fest des Deutschen Volkstanzes» sollte der nationalen Einheit dienen. Nach der Wende hoben Thüringer Folk-Enthusiasten einen Anlass aus der Taufe, der sich innert weniger Jahre zu einem der führenden Festivals mauserte im schier grenzenlosen Bereich Weltmusik. Die Zeitung «Zeit» nannte es einmal «Das schönste Kind der deutschen Einheit». Ein Zitat, das jetzt auch den Titel gab für ein Buch über das Rudolstadt-Festival.

Miteinander hier, aber nicht da

Nach zwei Jahren Coronaunterbruch gelang der Neustart eher zaghaft, was das Publikumsinteresse anbelangt – erstmals seit gefühlten Ewigkeiten war der viertägige Anlass nicht ausverkauft. Gar nichts Zaghaftes lässt sich dem Programm nachsagen; der Länderschwerpunkt lautete «Titos Erben», befasste sich also mit dem ehemaligen Jugoslawien. Der Beginn des Zerfalls dieses Vielvölkerstaates ist ebenfalls 30 Jahre her. In mancher Anmoderation der Konzerte wurde der Bogen geschlagen zur Jetztzeit und zum aktuellen Ukraine-Konflikt. Verbunden mit der Frage, ob und wann russische und ukrainische Musikerinnen und Musiker wohl wieder zum Miteinander finden.

Die Hanneli-Musig brachte den Tanzinteressierten humorvoll Polka, Schottisch und Walzer näher.

Zurzeit jedenfalls bestimmt nicht, zu tief sind die Gräben, zu naiv Wunschdenken in diese Richtung. Selbst die Aktivistinnen-Formation Pussy Riot schaffte es nicht, einen gemeinsamen Solidaritätsanlass auf die Beine zu stellen. Ihr eigener Auftritt war einigermassen problembehaftet, kam der Beamer mit der Übersetzung der (unabdingbaren) Texte doch nicht gegen das Tageslicht an. So blieb es bei einem wütenden Punkkonzert mit schmerzhaft schrillem Saxofon, aus dem einzig das dutzendfach und kaum löblich herausgeschriene «Putin» zu verstehen war.

Präsentiert schwermütige Volksmusik aus Bosnien und Herzegowina: Božo Vrećo. (Bild Michael Pohl)

Doch zurück zum Länderschwerpunkt, der zeigte, dass Musik und Gesang mit der Zeit selbst tiefste Verletzungen zu heilen vermögen. Nicht nur, dass Künstlerinnen und Künstler aus Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro, Slowenien und dem Kosovo längst wieder in grosser Selbstverständlichkeit miteinander musizieren, sondern dass insbesondere die jeweiligen Traditionen und Kulturen grenzüberschreitend gepflegt werden. Berührend, wie sich die Zwillinge Ratko und Radiša Teofilović alten Balkangesängen widmen und damit die Liebe, die Natur, das Leben generell besingen. Oder der genderfluide Božo Vrećo, der sich der Sevdalinka verschrieben hat, dieser schwermütigen Volksmusik aus Bosnien und Herzegowina.

Auf Wolke sieben mit Invisible World

Auftritte wie diese waren der Kontrapunkt zum bläsergeprägten Turbofolk von Boban Marković, der mit seinem vielköpfigen Orkestar den Festivalauftakt prägte, genau so wie Goran Bregović mit seiner «Wedding and Funeral Band» plus stattlichem Männerchor einen mitreissenden Schlusspunkt setzte – inklusive der unsterblichen Partisanenhymne «Bella Ciao».

Volles Rohr: Der Auftritt von Boban Marković ist geprägt von virtuosen Blasmusikern wie diesem Sousafonspieler. (Bild Frank Diehn)

Bei Hunderten von Konzerten auf Dutzenden von Bühnen immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn man einen magischen Moment erwischt, ist das dafür umso schöner, so wie beim Auftritt der multinationalen Formation Invisible World. Die Mischung aus Alt und Neu, Kammermusik und Jazz, Klängen aus Osteuropa und dem Mittelmeerraum führte das Publikum durch die leidenschaftliche Darbietung geradewegs auf Wolke sieben, der Applaus wollte nicht enden.

Während hier zuhören angesagt war, kam das eingangs erwähnte Tanzen über all die Tage nicht zu kurz. Beispielsweise mit der kroatischen Folkloretanzgruppe KUD HŽ Varaždin. Oder mit der Schweizer Volksmusikformation Hanneli-Musig, die Interessierten humorvoll Polka, Schottisch und Walzer näherbrachte.

Hunderttausende von Kassetten

Zu den vielen Höhepunkten dieser 30. Rudolstadt-Ausgabe zählte das Deutschlandlieder-Projekt, das an ein eher unbekanntes Stück deutscher Musik- und Kulturgeschichte erinnerte – jene der türkischen Arbeitsmigranten. Kassetten mit entsprechenden Liedern in den 1960er- und 1970er-Jahren gingen in türkischen Lebensmittelläden oft hunderttausendfach über die Theke. Ein hochmusikalisches Erlebnis bot auch «Der Flug der Liebe» – Adaptionen der 250 Jahre alt gewordenen Volksliedersammlung von Johann Gottfried Herder, dargebracht von Koryphäen der internationalen Folk- und Volksmusikszene wie dem bayerischen Tuba-Virtuosen und Kabarettisten Andreas Martin Hofmeir.

Famoses Solokonzert 30 Jahre später: Rufus Wainwright. (Bild Hans Bärtsch)

Ein besonderes Wiedersehen mit Rudolstadt war es für Rufus Wainwright. Der US-amerikanisch-kanadische Singer-Songwriter war in den Anfangsjahren des Festivals zusammen mit seiner Mutter und Tante (Kate und Anne McGarrigle) sowie Schwester Martha Wainwright hier aufgetreten. Und erinnerte sich anekdotenreich zurück im Verlauf seines famosen Solokonzerts.

Viele Konzerte des 30. Rudolstadt-Festivals lassen sich gratis in der ARD-Audiothek nachhören – online unter http://www.ardaudiothek.de.

Best-of TV-Serien 1/2022

Soeben sind die Nominierungen für die Emmy-Awards 2022 bekannt geworden, den wichtigsten US-Fernsehpreisen. Keine Serie, die es nicht verdient hätte, in die Kränze zu kommen (siehe hier). Etliche Nominierungen überschneiden sich mit meinen Favoriten 2021 (siehe hier) oder dem ersten Halbjahr 2022. Es sind weiterhin sehr gute Zeiten für Serienfans, wage ich mal zu behaupten. Und liste aus diesem Grund das aus meiner Sicht Beste vom Besten der vergangenen sechs Monate auf.

  1. «Better Call Saul» (Netflix). Fünf Folgen sind zwar noch ausstehend, aber die Schlussstaffel dieses Prequels von «Breaking Bad» schlägt alles in Sachen schier schmerzhaft langsamer, aber dennoch absolut konziser, kunstvoller Erzählweise. Und über allem steht die Frage: Was wird aus Kim Wexler, der besseren Hälfte des halbseidenen Anwalts Jimmy McGill alias Saul Goodman?
  2. «Stranger Things» (Netflix). In der zweitletzten Staffel dieser Science-Fiction-Mysteryserie geht es düsterer zu und her als bislang. Gleichzeitig ist die in den Achtzigerjahren in einer amerikanischen Kleinstadt angesiedelte Geschichte um Jugendliche, die mit dem Bösen zu kämpfen haben, unglaublich spannend und unterhaltsam. Ach ja: Dass Kate Bush neuerlich zu Hitparaden-Ehren gekommen ist durch «Stranger Things», dürfte inzwischen Allgemeinwissen sein.
  3. «Severance» (Apple TV+). Die Ironie an dieser Serie ist, dass sie die Arbeitswelt eines Unternehmens zeigt, das auch Apple sein könnte. Die Angestellten werden einem Eingriff unterzogen, die ihre Erinnerungen in die Arbeits- und die Privatwelt unterteilt. Bloss geht das nicht immer ganz reibungslos – mit entsprechenden Konsequenzen. Fortsetzung folgt.
  4. «Slow Horses» (Apple TV+). Britische MI5-Agenten, die versagt haben, landen im Slough House und werden dort von einem konstant schlechtgelaunten Jackson Lamb (grossartig: Gary Oldman) mit sinnlosen Aufgaben gepiesakt. Dass die «alten Gäule» doch noch etwas können, zeigt sich indes schon recht bald.
  5. «Euphoria» (Sky Show). Natürlich kann man darüber diskutieren, wie krass man das Leben von (drogenabhängigen) Jugendlichen zeigen muss – Staffel 1 gab diesbezüglich gehörig zu reden. Rue (gespielt von Zendaya) erneut durch ihre (wenigen) Hochs und (deutlich mehr) Tiefs zu folgen, tut richtiggehend weh. Aber so ist es nun Mal, wenn der Gefühlshaushalt verrückt spielt.
  6. «Der Pass» (Sky Show). Als eine junge Touristin in der Nähe von Salzburg tot aufgefunden wird, müssen deutsche und österreichische Kriminalpolizei erneut zusammenarbeiten. Ellie Stocker (Julia Jentsch) wie Gedeon Winter (Nicholas Ofzcarek) sind von der Jagd auf den Krampus-Killer in Staffel 1 derart angeknackst, dass man um beide ernsthaft fürchten muss. Eine der besten deutschen Thrillerserien.
  7. «After Life» (Netflix). Schwarzhumorig, wie es nur die Briten können. Ricky Gervais gibt den grantigen Witwer Tony. Allerdings ist nicht mehr alles Zynismus pur, sondern auch (vorsichtiger) Optimismus. Dass die Schlussstaffel 3 dieser Serie für Tony wie dessen Umfeld versöhnlich endet, ist das Allerschönste an ihr.
  8. «Ozark» (Netflix). Irgendjemand in dieser Serie um Geldwäscherei und Drogenkartelle, der nicht hochgradig borderline unterwegs ist? Nein. Überraschend ist bloss, wer gegen Schluss dieser finalen Staffel 4 auch noch (fast) durchdreht. Ohne zu viel zu verraten: Es endet nicht gut, was besonders im Fall von Ruth Langmore (Julia Garner) mehr als nur tragisch ist.
  9. «Yellowstone» (Sky Show). Das Drama um eine Familienranch, die John Dutton (Kevin Costner) mit aller Macht verteidigen will, erreicht immer neue Eskalationsstufen. Dass da auch Waffengewalt im Spiel ist, macht die Serie angesichts der aktuellen Diskussionen in den USA zum Thema eigentlich zu einem No-go. Gleichwohl kann ich diesen Neo-Western nur empfehlen.
  10. «Vigil» (BBC/Arte). Internationale Spionage, Friedensaktivisten und ein Mord an Bord eines Atom-U-Bootes: «Vigil – Tod auf hoher See» ist eine hochspannende Thriller-Serie und, völlig verdient, die erfolgreichste BBC-Serie des vergangenen Jahres.
  11. «Euer Ehren» (ARD). «Your Honor» ist zwar noch nicht allzu lange her, gleichwohl hat mir auch diese Adaption der Geschichte um einen Richter, der seinen straffällig gewordenen Sohn zu decken versucht, den Ärmel reingenommen. Beider Leben geraten komplett aus der Bahn und werden zu einem wahren Alptraum.
  12. «Love & Anarchy» (Netflix). Nicht mehr ganz so unbeschwert wie in Staffel 1, aber immer noch eine der warmherzigsten Serien überhaupt: Eine erfolgreiche Beraterin und ein junger IT-Experte haben bei der Arbeit in einem alteingesessenen Buchverlag ein Techtelmechtel. Und fordern damit sich selber heraus, genauso wie ihr Umfeld. Aus harmlosen Spielchen wird bitterer Ernst. Das ist in erster Linie unglaublich komisch.

Ebenfalls sehr gut gefallen haben mir:
«All In» (Comedy-Miniserie; One)
«Borgen» (Politdrama; Netflix). Weil ich sie nie ganz fertiggeschaut habe, hole ich zuerst die Staffeln 1 bis 3 nach, bevors an die ganz neue Staffel 4 geht.
«Red Light» (Drama; Arte)
«Sacha» (Drama-Miniserie; RTS/Arte)
«Schneller als die Angst» (Thriller-Miniserie; ARD)
«Shining Girls» (Mystery-Thriller; Apple TV+)
«The Responder» (Drama-Miniserie; BBC)
«Why Women Kill» (Comedy/Drama; ORF)
«Wilder» (Krimi/Drama; SRF)
«Zerv – Zeit der Abrechnung» (Drama; ARD)

Mit dunklen Klängen in die Welt hinaus

«15 Jahre Hymnen an die Melancholie»: Unter diesem Titel hat Michael Sele aus Sargans, Sänger und Kopf von The Beauty Of Gemina, die ersten eineinhalb Jahrzehnte dieser faszinierenden Band zusammengefasst. Das Buch erklärt insbesondere auch, warum es immer wieder zu Karrierebrüchen in Form von Besetzungswechseln kam.

von Hans Bärtsch (Text und Bilder)

Im Palais X-tra in Zürich fand im März 2007 das erste Konzert im grösseren Rahmen von The Beauty Of Gemina statt. Andere beginnen klein, TBOG richteten damals gleich mit der ganz grossen Kelle an – die Lokalität fasst 2000 Personen. 15 Jahre später erinnert sich Michael Sele daran, dass er damals während des ganzen Auftritts kein einziges Mal zum Publikum gesprochen habe. Beim Konzert von kürzlich zur Feier dieser 15 Jahre waren es auf derselben X-tra-Bühne auch nur wenige, bedachte Worte. Eine Quasselstrippe ist aus Sele in dieser ganzen Zeit nicht geworden. Dafür ein Sänger, Gitarrist und Pianist mit unglaublicher Tiefe und Eleganz.

Beim Jubiläumsauftritt stehen die Songs aus mittlerweile mehr als einem Dutzend Alben im Zentrum – von tanzbaren, härteren Nummern der Frühzeit bis zu melancholischen Balladen der jüngeren Vergangenheit. Dark Wave lässt sich als stilistischer Überbegriff drüberstülpen – eine Mischung als Elektro, Gothic Rock, Neofolk. Dunkle und elegische Klänge.

Start auf der grünen Wiese im Alten Kino Mels

Spannend aus regionaler Sicht ist das knapp 200-seitige Buch «15 Jahre Hymnen an die Melancholie», in dem der Kopf hinter The Beauty Of Gemina sehr persönlich zurückblickt. Und auch die weniger erbaulichen Karrierephasen nicht ausklammert. Angefangen hat das Ganze bereits in den Neunzigerjahren mit Bandprojekten namens Two Tunes und Nuuk. Im Alten Kino in Mels hatte Sele um 2005 die Möglichkeit, einen Proberaum beziehungsweise ein Studio einzurichten. Es begann quasi auf der grünen Wiese: Ohne Ahnung, ob und wie man jemals live auftreten würde, ohne Management, Plattenfirma, Vertrieb, Bookingagentur – eigentlich ohne irgendeinen Partner im Musikgeschäft.

Die Begegnung mit dem Schlagzeuger Mac Vinzens sollte sich als glückliche Fügung herausstellen. Er ist für Sele bis heute die grösste Konstante bei TBOG. Jedenfalls schlug das Debütalbum «Diary Of A Lost» in der Elektro- und Gothic-Szene gleich gehörig ein. Songs wie «Suicide Landscape» oder «Hunters» mit ihren treibenden Beats gehören noch heute zum Standardrepertoire bei Liveauftritten. Das Album war der Türöffner zu einschlägig bekannten Festivals wie dem Wave-Gothik-Treffen in Leipzig, dem Whitby Goth Weekend in England, dem M’era Luna in Hildesheim.

Nahezu eine «Mission impossible»

Die grosse Problematik, die sich gemäss Sele stellte: Live war das, was im Studio ertüftelt wurde, nur mit enormem Aufwand umzusetzen, was bestimmte Konzertlokalitäten erforderte. Dem stand der insgesamt doch noch eher bescheidene «Marktwert» der Band gegenüber. Das Buchen von Auftritten war nahezu eine «Mission impossible».

Das Feuer war jedoch entfacht, nicht zuletzt dank Erlebnissen wie dem Vorprogramm von Smashing Pumpkins im Zürcher Hallenstadion. In der Folge nahm das TBOG-Schiff Fahrt auf. In der Regel nach demselben Muster: Sele entwarf neue Songs, spielte sie mit immer wieder wechselnden Musikern – bis dato um die 30 – ein und spielte damit Konzerte. Nicht enorm viele, dafür immer wieder an sehr speziellen Orten. Und teils in sehr reizvollen Besetzungen – mit Streichern wie dem international tätigen Werdenberger Cellisten Raphael Zweifel etwa, der schon mit den Toten Hosen auf Tour war und aktuell mit dem deutschen Rapper Moses Pelham.

LP von Soloauftritt in Eschen

Zu den Aktivitäten von The Beauty Of Gemina gehört mit jedem neuen Album die Realisierung von Videoclips. Darunter so speziellen wie dem Dreh mit der Maskengruppe Hohlgasspass in der Rheinau an einem kalten Wintertag 2017. Solche Clips erreichen auf Youtube jeweils sechsstellige Klickzahlen.

Um einen Sprung zu machen: Corona hat natürlich auch die Tätigkeiten von Sele und Band eingeschränkt. Es war aber auch die Phase, Neues zu entdecken. Namentlich erwähnt sei die akustische Umrahmung von Lesungen der ostdeutschen Schauspielerin Katharina Thalbach. Und insbesondere die Soloperformance in den Little-Big- Beat-Studios in Eschen im Rahmen der Reihe «Solo Live Recording». Daraus entstand später eine LP (keine CD!).

Touren bis nach Südamerika

In der Region trat Sele immer nur dosiert auf. Das konnte im Bergwerk sein (Flums oder Sargans), im Alten Kino Mels, am Quellrock in Bad Ragaz. Die wohl verrücktesten Touren führten TBOG nach Südamerika, wo sie von den Fans auf Händen getragen wurden. Ein pures Vergnügen waren solche Reisen nicht, allein wenn man schon an das Gepäck mit all den Instrumenten denkt.

In der Band kam es, wie erwähnt, zu regen Wechseln. Ebenso hinter den Kulissen. Das waren in der Erinnerung Seles manchmal sehr schmerzliche Erfahrungen. Umgekehrt kam es zu immer wieder neuen Begegnungen, die lang und tief anhielten – etwa mit Fans oder sonstigen Personen aus dem Anhang der Band, die plötzlich in bedeutsame Rollen hineinwuchsen. Seles lebendige Erzählung lässt die interessierte Leserschaft nun teilhaben am Musiker, Künstler und Menschen Michael Sele. Das Buch gibt auch einen Einblick ins Rockbusiness, an dessen Rändern die Formation The Beauty Of Gemina unterwegs ist. Und hoffentlich noch weiter sein wird. Erhältlich ist «15 Jahre Hymnen an die Melancholie» via die Website der Band.

http://www.thebeautyofgemina.com

Michael Sele: «15 Jahre Hymnen an die Melancholie». TBOG Music Edition. 192 Seiten. 54 Franken. (Zu beziehen via die Website von The Beauty Of Gemina.)

Das Beste 2021 – TV-SERIEN

Die Serienwelt wird, was die Streaming-Anbieter anbelangt, immer komplexer, zumal auch die traditionellen Fernsehanstalten mitmischen und Kooperationen entstehen, die bis anhin undenkbar waren. Ein einheimisches Beispiel dafür ist die Produktion «Tschugger», welche das SRF zusammen mit Sky Switzerland realisiert hat. Was das deutschsprachige Serienschaffen anbelangt, belebt die Konkurrenz durch Netflix und Co. offenbar das Geschäft beziehungsweise hebt das Niveau, was die künstlerische Qualität anbelangt. Schön für uns Konsumentinnen und Konsumenten! Mit dem einzigen Makel, dass es immer schwieriger wird, den Überblick zu behalten und in diesem riesigen Heuhaufen die lohnenden Nadeln zu finden. Mir persönlich haben 2021 Produktionen des amerikanischen Serienproduzenten HBO – einmal mehr – mit am meisten Freude bereitet. Quantitativ waren es im Coronajahr 2 total 64 Serien mit 75 Staffeln (vergleichbar mit dem Vorjahr), dazu rund ein Dutzend Serien, bei denen ich ausgestiegen bin. Länger denn je präsentiert sich meine To-do-Liste – eine Folge von Tipps anderer Serienfreaks, welche jederzeit willkommen sind. Nachfolgende Liste ist nicht unbedingt als Rangliste zu verstehen, die Reihenfolge habe ich gleichwohl nicht ganz zufällig gewählt.

«The White Lotus» – Staffel 1 (HBO, Sky Show)
Eine Gruppe reicher und verwöhnter Menschen kommt in einem Luxus-Resort auf Hawaii an – und erlebt dort die Hölle. Bei diesen BesucherInnen wie den Bediensteten kommen in paradiesischer Umgebung hässliche Fratzen zum Vorschein, sozusagen das Hässlichste im Menschen. Und das zumeist wegen Banalitäten. Diese bissige Gesellschaftssatire lässt einen wieder einmal trefflich über Moral und Charaktereigenschaften sinnieren. Ursprünglich war «The White Lotus» als Miniserie konzipiert; weil sie über Erwarten erfolgreich lief, ist nun eine zweite Staffel in Vorbereitung.


«Succession» – Staffel 3 (HBO, Sky Show)
Das Intrigieren in der fiktiven amerikanischen Mediendynastie Roy geht weiter. Der Alte (Logan Roy) will einfach nicht loslassen, scheint den Laden mit seinen Instinkten aber weiterhin als Einziger im Griff zu haben. Ihm gegenüber seine vier Kinder, die eigene Agenden verfolgen, mal allein, mal im Geschwisterverbund. Die Dialoge und Wortspiele sind extrem scharfzüngig, der Ausgang dieses Machtspiels völlig ungewiss, zumal es immer wieder zu neuen Wendungen kommt. Es mag ein Detail sein, aber «Succession» kommt auch mit der zurzeit wohl besten Titelmelodie (Nicholas Britell) daher.


«Mare Of Easttown» – Miniserie (HBO, Sky Show)
Achtung: Wer Kate Winslet aus «Titanic» kennt und liebt, sollte sich diese Serie eventuell nicht antun. Denn in «Mare Of Easttown» spielt sie eine Polizistin, die einen Mord aufzuklären hat und dadurch auf weitere Abgründe in dieser amerikanischen Kleinstadt stösst. Dazu ist ihr eigenes Leben ein einziges Desaster. Gut möglich, dass dieser Plot mit einer anderen Hauptdarstellerin zu einer 08/15-Produktion geworden wäre. Winslet ist in ihrer Rolle aber eine derartige Wucht, dass sich dieser Siebenteiler allein wegen ihr lohnt.


«We Are Who We Are» – Miniserie (HBO, Sky Show)
Als seine beiden Mütter von den USA auf einen italienischen Militärstützpunkt versetzt werden, muss der 14-jährige Frazer mit. Dort fühlt er sich von der gleichaltrigen Caitlin angezogen, die ebenfalls auf der Suche nach ihrer Geschlechtsidentität ist. Diese Begegnung täuscht aber nicht darüber hinweg, dass da viel Einsamkeit, Schmerz und Orientierungslosigkeit ist – bei den beiden Pubertierenden wie den Eltern und dem gesamten hierarchisch geprägten Umfeld. Trotz dieser Tristesse kommt es auch zu sehr schönen zwischenmenschlichen Momenten – bloss dauern die meist nur ganz kurz.


«Tschugger» – Staffel 1 (SRF, Sky Show)
Wer hätte gedacht, dass wir uns je eine Serie, die im Wallis spielt, mit Untertiteln anschauen? Ich habs gemacht, mehr als einmal – und bin dabei vor Lachen jedesmal fast vom Sofa gefallen. Ich muss zurückdenken bis «The Big Lebowski», dass mir das letztmals passiert ist. Hier stimmt humortechnisch einfach alles: Schräge Figuren, absurd-übertriebene Szenen, freche Sprüche, politische Unkorrektheiten und eben auch Untertitel für uns «Grüezini». Eine zweite «Tschugger»-Staffel mit Bax, Smetterling und Co. ist bereits abgedreht und wird uns hoffentlich erneut so viel Spass bereiten.


«We Are Lady Parts» – Staffel 2 (Channel 4)
Eine muslimische Frauen-Punkband sucht eine neue Gitarristin. Das ist die Ausgangslage dieser überaus witzigen britischen Serie. Ausgerechnet eine Doktorandin der Mikrobiologie, die in ihrer gläubigen Gemeinde demnächst verheiratet werden soll, die Countrymusik mag und vor Lampenfieber erbricht, soll diese Gitarristin sein. Dieser Culture-Clash – ein beliebtes filmisches Motiv – hat es in sich. Und wie man es von den Briten kennt, ist der Humor zwischendurch schwärzer als schwarz. Eine zweite Staffel ist inzwischen bestätigt.


«Shtisel» – Staffel 3 (Netflix)
Das Warten auf Staffel 3 dieser israelischen Serie, die das Leben einer strenggläubigen Familie in einem Viertel in Jerusalem zeigt, dauerte geschlagene sechs Jahre. Es hat sich gelohnt. Unverändert wird das Alltagsleben ultraorthodoxer Juden gezeigt. Einer Kultur, die den meisten von uns total fremd sein dürfte. Und genau das macht den Reiz dieser Serie aus – erzählt in einem sehr bedächtigen Rhythmus anhand von Figuren, die einem allesamt ans Herz wachsen. Die einen mehr, die anderen weniger, ganz wie im richtigen Leben. Das ist, um es mit der «NZZ am Sonntag» auszudrücken, «Unterhaltung mit Tiefgang». Stand heute ist leider keine Fortsetzung zu erwarten, dafür ein US-amerikanischer Ableger.


«Bir Başkadır» – Miniserie (Netflix)
Um in fremden Kulturkreisen zu bleiben – diese Serie zeigt Ausschnitte von acht Leben von Menschen in Istanbul, die Grenzen überschreiten. Dabei Ängste überwinden, um sich Wünsche zu erfüllen, und dafür auch Beziehungen auf die Probe zu stellen. Im Zentrum steht Meryem, eine Teilzeitputzfrau, die Ohnmachtsanfälle erleidet und deshalb zur Therapie geht. Diese Therapeutin wiederum ist Teil eines zufälligen Beziehungsgeflechts mit Meryem als Anknüpfungspunkt. Dass und wie sich schlussendlich Kreise schliessen, ist das zu Tränen rührende an «Bir Başkadır» – einer Serie, welche die Vielfalt der türkischen Gesellschaft abbildet. Das aber nicht wirklich zum Wohlgefallen der offiziellen Türkei.


«Godfather Of Harlem» – Staffel 2 (Epix)
Das Interessante an dieser auf wahren Begebenheiten beruhenden Drogen- und Gangsterboss-Serie aus dem New York der Sechzigerjahre ist, dass sie weit darüber hinausgeht. Im Zentrum steht zwar Bumpy Johnson (Forest Whitaker), der das Heroingeschäft in Harlem wieder ganz unter seine Kontrolle bringen will, sich aber auch gegen die Benachteiligung von Menschen mit dunkler Hautfarbe stark macht. Dazu bekommt die Serie durch seinen Freund Malcom X eine stark religiös-politische Komponente, ist dieser doch ein Sprecher der radikalen Vereinigung Nation of Islam.


«Ted Lasso» – Staffel 2 (Apple TV+)
Man kann es nur wiederholen: Es braucht wirklich null Kenntnisse weder von Foot- noch von Fussball, um diesem amerikanischen Coach bei seinem Wirken bei der mittelmässigen britischen Premier-League-Mannschaft AFC Richmond zuzusehen. Denn er selber hat keine Ahnung von «richtigem» Fussball. Dafür das Herz auf dem rechten Fleck. Mit seiner liebevoll-naiven Art erobert er zwar nicht die Tabellenspitze, dafür die Spieler, die Fans und die Club-Oberen noch dazu. Ted Lasso hat allerdings auch Schwächen, die in dieser Staffel 2 erst offenbar werden. Alles in allem ist dies eine der sympathischsten, wohltuendsten Serien der jüngeren Zeit – eine, die einem ein Dauerlächeln ins Gesicht zaubert.


«Station Eleven» – Miniserie (HBO Max)
Es gibt inzwischen ja bereits mehrere Serien, die sich des Szenarios Pandemie annehmen – und das auf verschiedenen Eskalationsstufen. In der italienischen Produktion «Anna» (Arte) etwa ist automatisch zu Tode geweiht, wer die Pubertät erreicht. Mit seltener Brutalität wird auf der Insel Sizilien inmitten von Bandenkriegen die Suche des Mädchens Anne nach ihrem Bruder geschildert, verbunden mit dem Hoffnungsschimmer, dass auf dem Festland inzwischen ein Heilmittel gegen das Virus gefunden wurde. Im ebenfalls recht reisserischen «Sløborn» (ZDF Neo) wiederum geht es um eine zu 90 Prozent tödliche Taubengrippe, die auch die Bewohner einer Insel in der Nordsee ereilt. In Staffel 2, welche in wenigen Tagen anläuft, soll es um den Zerfall der Zivilisation gehen. Und damit zu «Station Eleven» (HBO Max), wo ebenfalls ein Virus grassiert und die ganze Welt in wenigen Tagen mit nur wenigen Überlebenden zurücklässt. Die momentan laufende Miniserie erzählt die Geschichte einzelner Betroffener, ausgehend von einem Theatersaal in Chicago, wo während einer Shakespeare-Aufführung ein Schauspieler verstirbt, auf verschiedenen Zeitebenen und so überraschend wie verstörend. Stellen Sie sich vor, dass in 20 Jahren Pferde Pick-ups nach sich ziehen und eine Wanderschauspieltruppe ennet des Michigansees ebendiesen Shakespeare zum Besten gibt und darüber sinniert, ob es noch zeitgemäss sei, die Tragödie «Hamlet» in einer historischen Fassung zu geben. Letztlich gehts um existenzielle Fragen, was man verloren hat und wie man die Zukunft gestalten soll, wenn definitiv nichts mehr ist, wie es einmal war. Wer bereits mit Corona Mühe hat, lässt hiervon vielleicht besser die Finger.


«Sex Education» – Staffel 3 (Netflix)
Das Ausgangsszenario ist einfach grossartig: Otis, Sohn einer bekannten Sexualtherapeutin, bietet zusammen mit der rebellischen Mitschülerin Maeve Sexualtherapiestunden an, um das Taschengeld aufzubessern. Und das ohne jede eigene Sexerfahrung. Das ist in Staffel 3 anders, dafür ist die Freundschaft mit Maeve in die Brüche gegangen. Und an der Schule weht durch eine neue Leitung ein anderer Wind. Nebenfiguren bekommen dazu mehr Gewicht. «Sex Education» ist weit mehr als ein simples Teenie-Drama, die Serie taucht tief ein in die Sorgen, Nöte, aber auch Freuden heutiger Jugendlicher. Und lässt die Erwachsenen oft recht alt aussehen. Sehr unterhaltend!


«Sky Rojo» – Staffel 2 (Netflix)
Etwas Trash muss sein zwischendurch. In bester Tarantino-Manier versuchen drei Prostituierte, ihrem Zuhälter zu entkommen. Einfacher gesagt, als getan, wenn das Bordell sich auf einer Insel befindet und ihnen inzwischen – nebst dem Zuhälter und dessen Schergen – auch die Polizei auf der Spur ist. Die Moral dieser Geschichte: Miteinander gehts (meistens) besser. «Brutal gut», taxiert die F.A.Z. die zweite Staffel dieser spanischen Serie der «Haus des Geldes»-Erfinder doppeldeutig. Und der «Spiegel» meint: Ein tolles, aber keinesfalls ein tiefsinniges Vergnügen. Genau.


«Goliath» – Schlussstaffel 4 (Amazon)
Zum Schluss von Staffel 3 war der einst erfolgreiche Anwalt Billy McBride (Billy Bob Thornton) für einige Minuten tot. Das lässt ihn immer wieder in (Alp-)Träume abdriften. Aber letztlich auch zu Hochform auflaufen im Kampf gegen den Pillenhersteller Zax, einem wichtigen Akteur in der Opiodkrise in den USA, und der Vertriebsfirma. Ort der Geschehnisse ist diesmal San Francisco. Diverse Filmzitate geben dieser Staffel eine besondere Note. Dass sie versöhnlich endet, ist wohl die grösste Überraschung dieser grossartigen Serie.


«Unbroken» – Miniserie (ZDF Neo)
In dieser deutschen Thrillerserie verschwindet die hochschwangere Kommissarin Alex (Aylin Tezel) urplötzlich. Nach Tagen taucht sie wieder auf – ohne Erinnerung und ohne Kind. Was steckt dahinter, zumal alles nach einer normalen Entbindung aussieht? Polizeikollegen und sie selber kommen immer mehr ins Zweifeln, ob sie auf den richtigen Spuren sind. Im Gegensatz zu ihren «Tatort»-Einsätzen kann Tezel hier zeigen, was in ihr steckt. Sie trägt den Sechsteiler mit ihrer fiebrigen Präsenz praktisch allein. Was aber nicht heisst, dass der Fall selber nicht auch hochspannend und fantastisch erzählt ist.


Ebenfalls sehr gut gefallen haben mir:
«Atlantic Crossing» – Miniserie (PBS und ARD-Mediathek)
«Atypical» – Schlussstaffel 4 (Netflix)
«Baghdad Central (Bagdad nach dem Sturm)» – Miniserie (Channel 4, Arte)
«Beforeigners» – Staffel 1 (HBO Europe, ARD)
«Billions» – Staffel 5, Folgen 6-12 (Sky Show)
«Bonusfamiljen (The Patchwork Family)» – Staffeln 1 bis 4 (FLX, Netflix)
«Caïd (Gangsta)» – Miniserie (Netflix)
«Catastrophe» – Staffeln 2 bis 4 (Channel 4, BBC)
«Cellules de crise» – Miniserie (RTS/SRF)
«Dexter – Cold Blood» – Miniserie (Sky Show)
«Die Wespe» – Miniserie (Sky Show)
«Gomorra» – Schlussstaffel 5 (Sky Show)
«Hit & Run» – Miniserie (Netflix)
«How To Sell Drugs Online (Fast)» – Staffel 3 (Netflix)
«Kalifat» – Miniserie (Netflix)
«Katla» – Miniserie (RVK, Netflix)
«Kingdom» – Staffeln 1 und 2 (Netflix)
«Mein eigenes Begräbnis» – Miniserie (Arte)
«Never Have I Ever…» – Staffel 2 (Netflix)
«Pantoufles» – Miniserie (Couleur 3/RTS, Playsuisse)
«Ragnarok» – Staffel 2 (Netflix)
«Schitt’s Creek» – Staffeln 4 bis 6 (CBC)
«The Flight Attendant» – Staffel 1 (HBO, Sky Show)
«The North Water» – Miniserie (BBC Two, AMC USA)
«The Serpent» – Miniserie (BBC One, Netflix)
«Westwall» – Miniserie (ZDF)
«Wilder» – Staffel 3 (SRF)
«Yellowstone» – Staffel 4 (Paramount Network)
«Your Honor» – Miniserie (Showtime, Sky Show)

Das Beste 2021 – MUSIK

Es war ein Musikjahr des entweder/oder – entweder haben mich komplexe Werke wie das Album «House Music» des Bell Orchestre eingenommen oder aber Songs mit Melodien zum Niederknien wie auf dem Album «Eiskeller» von Rover. Dazwischen gabs einige «Ausreisser», die anderswo zugeordnet werden müssen. Summa summarum bin ich froh, stilistisch mit sehr offenem Visier unterwegs zu sein – denn nur so kam wirklich eine Bestenliste zusammen. Anders gesagt: 2021 war alles andere denn ein Jahrhundert-Jahrgang, was Neuveröffentlichungen anbelangt. Dafür durfte man sich an Wiederveröffentlichungen erfreuen, die tontechnisch auf Vordermann gebracht oder aber mit Zusatzmaterial angereichert wurden. Nachfolgend meine Lieblingsmusiken in keiner speziellen, aber doch nicht ganz zufällig gewählten Reihenfolge.

Mario Batkovic, «Introspectio»
Er ist einer der Propheten, die im eigenen Land noch immer viel zu wenig gelten. Kein Wunder, ist die erste Besprechung des neuen Albums von Mario Batkovic in einem britischen Musikmagazin erschienen. Auf «Introspectio» ist der Berner nicht mehr allein mit seinem Akkordeon zu hören, sondern zusätzlich mit Elektronik, Schlagzeug und Chorälen. Batkovic kommt hier vor allem als Komponist zur Geltung. Die sechs Stücke entziehen sich jeder Kategorisierung, können allenfalls mit moderner Klassik, Minimal Music und Ambient verortet werden. Ein Trip in eine ureigene Musikwelt – atemberaubend in ihrer Dringlichkeit.


The Coral, «Coral Island»
Von all den Britpop-Bands der Neunzigerjahre und Anfang der Nullerjahre wie Blur, Oasis, Suede, Pulp, Supergrass ist ja nicht sonderlich viel übriggeblieben. Eine meiner liebsten dieser melodieseligen Bands waren immer The Coral. Dass sie nun gleich mit einem Doppelalbum aufwarten, auf dem sich eine Songperle an die andere reiht, ist die Überraschung des Jahres. Immer leicht psychedelisch angehaucht und von ausgemachter Jahrmarkt-Fröhlichkeit, sind die Lieder auf «Coral Island» ein einziges Hörvergnügen. Herausragend: «Vacancy» und «Faceless Angel».


The Weather Station, «Ignorance»
Es ist dies eine der Konsensplatten in den diesjährigen Bestenlisten der Musikkritik. Und das zu Recht. «Ignorance» ist grosse Songwriter-Kunst, Indie-Folk ohne Grenzen. Hinter The Weather Station steckt die Kanadierin Tamara Lindeman, die für die Aufnahmen zu diesem Album hochtalentierte Jazzmusiker um sich scharte. Um es mit dem deutschen «Rolling Stone» zu sagen: «Schönere, kunstvollere Lieder hat im Jahr 2021 niemand geschrieben.»


Moses Sumney, «Live From Blackalachia»
Es gibt ja schon Spinner unter den musikalisch Kreativen. Ohne eine gewisse Spinnerei würden bestimmte Werke wohl Mittelmass bleiben. Mittelmass kennt der ghanaisch-amerikanische Sänger Moses Sumney nicht. Quasi zur Veredelung einzelner Songs aus seinen ersten beiden Alben ist er samt sieben Begleitern ist die Blue Ridge Mountains gefahren und hat im Grünen eine Livescheibe eingespielt. Wobei man die sprichwörtlichen Grillen nur selten zirpen oder die Bächlein rauschen hört. Stattdessen spielt die Crew einen hochenergetischen Neo-R’n’B. Das Ganze gibt es nicht nur als Album, sondern auch als (gratis) Musikfilm auf Youtube.


Low, «Hey What»
Ja, genau, das ist diese Art Musik, bei der man sich erstmal vergewissern muss, ob die Boxen noch richtig angeschlossen sind. Denn der Low-Sound ist Noise und Rauschen, Repetition und Verzerrung bis zur Schmerzgrenze. Aus kalter Elektronik steigen engelsgleich Hymnen empor. Das US-amerikanische Duo schafft es, mit «Hey What» gleichzeitig abzuschrecken und die Hörerschaft dann doch den Repeat-Knopf drücken zu lassen. So gut zu altern und sich nebenbei immer wieder neu zu erfinden, möchte man manch anderer Band auch wünschen.


Bell Orchestre, «House Music»
Mit House als Musikstil hat dieses Werk nicht viel zu tun. Dafür mit einem Haus im wahrsten Sinne des Wortes: In jedem Zimmer, auf jedem Stockwerk wird musiziert. Es ist ein einziger grosser Strom von Improvisationen über nur minim sich ändernde Rhythmus- und Harmoniemuster. Das kanadische Kollektiv – mit Mitgliedern von Arcade Fire – bringt klassische und elektronische Elemente zusammen. Das Ganze war in weniger als eine Woche im Kasten. Und erinnert an die besten Zeiten von Jams, die (gefühlt) stundenlang dauerten. Aber im besten Fall mit keiner Sekunde langweilig wurden.


Black Country, New Road, «For The First Time»
Es ist die Band, die ich am dringlichsten live sehen möchte – ob und wie die Jungspunde im besten Studentenalter ihre jazzigen Postrock-Kreationen auf der Bühne allenfalls nochmal auf den Kopf stellen. Von Youtube-Videos weiss man, dass sie recht stoisch ans Werk gehen, und auch wenns kracht und fetzt und hochkomplex zu und her geht kaum ein Bandmitglied mit der Wimper zuckt. Black Country, New Road haben ihre Sounds perfektioniert, bevor es ans Debütalbum ging. Ein selten reifer Erstling, ein zweites Album ist bereits angekündigt.


Jah Wobble, «Metal Box – Rebuilt In Dub»
Die «Metal Box» war 1979 das zweite Album der legendären britischen Formation Public Image Ltd. Es erschien in limitierter Auflage tatsächlich als graue Filmdose. Musikalisch war es eher schwer verdaulicher, experimenteller (Kraut-)Rock mit Sänger John Lydon, der seine Vergangenheit als Frontmann der Punk-Vorreiter Sex Pistols hinter sich lassen wollte. Der Bassist von damals, Jah Wobble, hat das Ganze gut 40 Jahre später durch den Dub-Wolf gedreht, grossmehrheitlich ohne Gesang, aber mit der ganzen Wucht und Wut, die jenem Werk schon damals innewohnte.


Rover, «Eiskeller»
Was hat ein Album auf dieser Liste zu suchen, das zuerst einmal getadelt werden muss für seine billige Machart (das Schlagzeug aus dem Computer ist schrecklich; und falls es doch ein richtiges Drum sein sollte, noch schrecklicher)? Auch die anderweitige Instrumentierung und die Arrangements sind… na ja. Aber: Die süsslichen Melodien bestätigen, was in diesem französischen Musiker steckt – ein Melancholiker vor dem Herrn, der in der Regel den richtigen Ton trifft. In diesem Sinne seien die coronabedingten Umstände entschuldigt. Und es sei das genossen, was die Essenz dieser Homerecording-Aufnahme ist – wunderbare, stimmige Lieder.


Rodney Crowell, «Triage»
Seit die Coronazahlen in die Höhe schnellen, weiss jedes Kind, worum es beim Thema Triage geht. Dass das neue Album von Rodney Crowell «Triage» heisst, hat damit zwar nur sehr bedingt zu tun, kommt aber gleichwohl nicht von ungefähr. Beim amerikanischen Countrymusiker sind es die Auswahlkriterien des Lebens – mit Leid und Trauer am einen und himmelhochjauchzender Freude am anderen Ende der Skala. Wobei Crowell zu Ersterem tendiert. Und das mit wohlgefälligen, die oft düsteren Texte geradezu konterkarierenden Weisen in allerbester Americana-Manier. Ein ganz grosses Alterswerk.


Ebenfalls gern und häufig gehört habe ich (in alphabetischer Reihenfolge):
Aaron Frazer («Introducing…»)
Aaron Lee Tasjan («Tasjan! Tasjan! Tasjan!»)
Angelo Repetto («Sundown Explosion»; EP)
Arlo Parks («Collapsed In Sunbeams»)
Black Keys («Delta Kream»)
Cassandra Jenkins («An Overview On Phenomenal Nature»)
Cathal Coughlan («Song Of Co-Aklan»)
Dean Wareham («I Have Nothing To Say To The Mayor Of LA»)
Dennis Bovell meets Dubblestandart («Repulse ‘Reggae Classics’»)
Elbow («Flying Dream 1»)
Endless Boogie («Admonitions»)
Gabriels («Bloodline» und «Love And Hate In A Different Time»; zwei EPs)
Godspeed You! Black Emperor («G_d’s Pee At State’s End!»)
International Music («Ententraum»)
LaBrassBanda («Yoga Symphony No.1»)
Les Yeux D’La Tête («Bonne Nouvelle»)
Limiñanas/Garnier («De Película»)
Lorde («Solar Power»)
Lost Horizons («In Quiet Moments»)
Manu Delago («Environ Me»)
Margo Cilker («Pohorylle»)
Muse («Origin Of Symmetry – XX Anniversary RemiXX»)
Neil Young & Crazy Horse («Way Down In The Rust Bucket – Live»)
Robert Finley («Sharecropper’s Son»)
Rogér Fakhr («Fine Anyway»)
Sault («Nine»)
Sons Of Kemet («Black To The Future»)
Tony Joe White («Smoke From The Chimney»)
Trees Up North («Trees Up North»)
The Legendary Lightness («Bis doch froh»)
Tindersticks («Distractions»)
U-Roy («Solid Gold»)
Vanishing Twin («Ookii Gekkou»)
Xixa («Genesis»)

Ein Ort für die lustvolle Suche nach speziellen Klängen

Unter erschwerten Bedingungen (Corona) hat vom 12. bis 15. August im urnerischen Altdorf das zwölfte Alpentöne-Festival stattgefunden. Trouvaillen bot es dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) zuhauf.

von Hans Bärtsch

Corona ist ein Biest, auch im Jahr 2. Und für Veranstalter weiterhin mit vielen Unwägbarkeiten verbunden. Die Alpentöne-Macher (neu unter der künstlerischen Leitung von Graziella Contratto und Barbara Betschart) haben den Stier, den der Kanton Uri im Wappen trägt, gewissermassen bei den Hörnern gepackt und das Biest damit zwar nicht bezwungen, aber für ein Wochenende gebändigt. Dies mit einem Festivalprogramm, das sich sehen und vor allem natürlich hören lassen konnte. Und einem enormen logistischen Aufwand.

Einzelbillette statt Festivalpass

Ob ein grösseres Publikum ausblieb, weil es von den vergangenen elf Durchführungen an den Festivalpass gewöhnt war, mit dem man immer und überall Zutritt hatte? Regelmässige Besucherinnen und Besucher erinnern sich an manch ein unangenehmes Ellbögeln, weil das Platzangebot in jedem Saal halt nun mal endlich ist. Dieses Jahr mussten Einzelbillette erworben werden – inklusive Garantie eines Sitzplatzes. Das war, wie auch Festivalpass-Anhänger eingestehen werden, ganz schön bequem. Dass der Entdeckerlust letztlich fast uneingeschränkt gefrönt werden konnte, ist zum einen einer Aktion in letzter Minute zu verdanken – für jedes gekaufte Ticket gabs ein Freibillett obendrauf. Zum anderen sorgte der Bändel, den es gegen Vorweisung des Covid-Zertifikats gab, für jegliche Bewegungsfreiheit.

Die Verantwortlichen zogen gestern eine äusserst positive Bilanz, was die künstlerischen und organisatorischen Aspekte anbelangte. Wirtschaftlich blieb man mit 3500 verkauften Billetten im Rahmen des (Corona-)Budgets, das mit weniger Einnahmen und höheren Ausgaben gerechnet hatte. Das erwartete Minus könne vollumfänglich mit Defizitgarantien aufgefangen werden, führte der neue Alpentöne-Geschäftsführer Pius Knüsel aus.

Grosses Facettenreichtum

Damit jetzt aber endlich zu dem, was dieses alle zwei Jahre stattfindende Festival, das sich künstlerischen Ausdrucksweisen aus dem Alpenraum widmet, an den vergangenen vier Tagen bot. Etwa ein mitreissendes Zusammentreffen von Studierenden der Hochschulen Luzern und des Mozarteums Salzburg aus dem Gastland Österreich. Die an diesen beiden Standorten angebotene Studienrichtung Volksmusik sorgt für erfreulichen Nachwuchs an Musikerinnen und Musikern, die Respekt vor der Tradition haben, aber ohne Scheuklappen auch Neues wagen.

Ein besonders berührendes Projekt und eine weitere Uraufführung war «Die 7. Jahreszeit» unter der Regie von Tom Ryer. Vera Kappeler (Klavier), Anna Trauffer (Kontrabass, Gesang) und Peter Conradin Zumthor (Schlagzeug) vertonten teils uralte Kinderlieder. Schülerinnen und Schüler der heilpädagogischen Schule Papilio trugen diese Lieder auf ihre ureigene Weise mit – singend, tanzend, paukenschlagend oder den Regen mit Kartonschachteln heraufbeschwörend.

Konzertsaal nicht leergespielt

Das aus Jugendlichen bestehende Bündner Vokalensemble Incantanti unter der Leitung von Christian Klucker wurde ergänzt durch den einmaligen Obertongesang von Christian Zehnder – in der Kirche kam diese Vokaltechnik in Form neuer Kompositionen besonders eindrücklich zur Geltung. Von den Premieren erwähnt sei auch noch das Improvisationsprojekt dreier Ausserrhödler. Noldi Alder (Geige, Hackbrett, Gesang), gilt als einer der grossen Neuerer der Volksmusik. Seinem Wunsch (oder seiner Befürchtung), einmal einen Konzertsaal leerspielen zu wollen, war kein Erfolg beschieden. Gebannt harrte das Publikum im Theater Uri bis zur allerletzten Sekunde dieses feinen, hochmusikalischen Konzertes mit Fabian M. Müller am Klavier und Reto Suhner an Blasinstrumenten. Fürwahr ein «Trialog auf höchstem Niveau», wie schon das Programmheft versprochen hatte.

Alpentöne 2021 machte die Handschriften von Contratto und Betschart (mehr Inklusion, mehr Vermittlung, mehr Klassik, stilistisch aber insgesamt die Konzentration auf weniger) erstmals deutlich. Fazit: Das Alpentöne bleibt für Menschen mit offenen Ohren das Entdeckerfestival schlechthin. Bei Radio SRF2 lassen sich in den beiden «Weltklasse»-Sendungen vom 20./21. August neun Alpentöne-Konzerte nachhören.