Das europaweit wohl bedeutendste Roots-, Folk- und Weltmusikfestival im deutschen Rudolstadt hat dieses Jahr sein 30-Jahr-Jubiläum gefeiert. Mit einem Schwerpunkt auf den Ländern Ex-Jugoslawiens – und Gästen aus der Schweiz.
von Hans Bärtsch
«Sie gehen bestimmt ans Tanzfest – viel Vergnügen!» Die Anbieter von Unterkünften im weiteren Umkreis von Rudolstadt wissen, wer bei ihnen jeweils Anfang Juli zu Gast ist. Und beginnen ohne Umschweife zu erzählen von eigenen Besuchen und unvergesslichen Konzerten in der schönen Altstadt, auf der darüber thronenden Heidecksburg oder im ausladenden Heinepark an der Saale.

Getanzt wurde dort schon Mitte der 1950er-Jahre zu DDR-Zeiten. Das «Fest des Deutschen Volkstanzes» sollte der nationalen Einheit dienen. Nach der Wende hoben Thüringer Folk-Enthusiasten einen Anlass aus der Taufe, der sich innert weniger Jahre zu einem der führenden Festivals mauserte im schier grenzenlosen Bereich Weltmusik. Die Zeitung «Zeit» nannte es einmal «Das schönste Kind der deutschen Einheit». Ein Zitat, das jetzt auch den Titel gab für ein Buch über das Rudolstadt-Festival.
Miteinander hier, aber nicht da
Nach zwei Jahren Coronaunterbruch gelang der Neustart eher zaghaft, was das Publikumsinteresse anbelangt – erstmals seit gefühlten Ewigkeiten war der viertägige Anlass nicht ausverkauft. Gar nichts Zaghaftes lässt sich dem Programm nachsagen; der Länderschwerpunkt lautete «Titos Erben», befasste sich also mit dem ehemaligen Jugoslawien. Der Beginn des Zerfalls dieses Vielvölkerstaates ist ebenfalls 30 Jahre her. In mancher Anmoderation der Konzerte wurde der Bogen geschlagen zur Jetztzeit und zum aktuellen Ukraine-Konflikt. Verbunden mit der Frage, ob und wann russische und ukrainische Musikerinnen und Musiker wohl wieder zum Miteinander finden.
Die Hanneli-Musig brachte den Tanzinteressierten humorvoll Polka, Schottisch und Walzer näher.
Zurzeit jedenfalls bestimmt nicht, zu tief sind die Gräben, zu naiv Wunschdenken in diese Richtung. Selbst die Aktivistinnen-Formation Pussy Riot schaffte es nicht, einen gemeinsamen Solidaritätsanlass auf die Beine zu stellen. Ihr eigener Auftritt war einigermassen problembehaftet, kam der Beamer mit der Übersetzung der (unabdingbaren) Texte doch nicht gegen das Tageslicht an. So blieb es bei einem wütenden Punkkonzert mit schmerzhaft schrillem Saxofon, aus dem einzig das dutzendfach und kaum löblich herausgeschriene «Putin» zu verstehen war.

Doch zurück zum Länderschwerpunkt, der zeigte, dass Musik und Gesang mit der Zeit selbst tiefste Verletzungen zu heilen vermögen. Nicht nur, dass Künstlerinnen und Künstler aus Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro, Slowenien und dem Kosovo längst wieder in grosser Selbstverständlichkeit miteinander musizieren, sondern dass insbesondere die jeweiligen Traditionen und Kulturen grenzüberschreitend gepflegt werden. Berührend, wie sich die Zwillinge Ratko und Radiša Teofilović alten Balkangesängen widmen und damit die Liebe, die Natur, das Leben generell besingen. Oder der genderfluide Božo Vrećo, der sich der Sevdalinka verschrieben hat, dieser schwermütigen Volksmusik aus Bosnien und Herzegowina.
Auf Wolke sieben mit Invisible World
Auftritte wie diese waren der Kontrapunkt zum bläsergeprägten Turbofolk von Boban Marković, der mit seinem vielköpfigen Orkestar den Festivalauftakt prägte, genau so wie Goran Bregović mit seiner «Wedding and Funeral Band» plus stattlichem Männerchor einen mitreissenden Schlusspunkt setzte – inklusive der unsterblichen Partisanenhymne «Bella Ciao».

Bei Hunderten von Konzerten auf Dutzenden von Bühnen immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn man einen magischen Moment erwischt, ist das dafür umso schöner, so wie beim Auftritt der multinationalen Formation Invisible World. Die Mischung aus Alt und Neu, Kammermusik und Jazz, Klängen aus Osteuropa und dem Mittelmeerraum führte das Publikum durch die leidenschaftliche Darbietung geradewegs auf Wolke sieben, der Applaus wollte nicht enden.
Während hier zuhören angesagt war, kam das eingangs erwähnte Tanzen über all die Tage nicht zu kurz. Beispielsweise mit der kroatischen Folkloretanzgruppe KUD HŽ Varaždin. Oder mit der Schweizer Volksmusikformation Hanneli-Musig, die Interessierten humorvoll Polka, Schottisch und Walzer näherbrachte.
Hunderttausende von Kassetten
Zu den vielen Höhepunkten dieser 30. Rudolstadt-Ausgabe zählte das Deutschlandlieder-Projekt, das an ein eher unbekanntes Stück deutscher Musik- und Kulturgeschichte erinnerte – jene der türkischen Arbeitsmigranten. Kassetten mit entsprechenden Liedern in den 1960er- und 1970er-Jahren gingen in türkischen Lebensmittelläden oft hunderttausendfach über die Theke. Ein hochmusikalisches Erlebnis bot auch «Der Flug der Liebe» – Adaptionen der 250 Jahre alt gewordenen Volksliedersammlung von Johann Gottfried Herder, dargebracht von Koryphäen der internationalen Folk- und Volksmusikszene wie dem bayerischen Tuba-Virtuosen und Kabarettisten Andreas Martin Hofmeir.

Ein besonderes Wiedersehen mit Rudolstadt war es für Rufus Wainwright. Der US-amerikanisch-kanadische Singer-Songwriter war in den Anfangsjahren des Festivals zusammen mit seiner Mutter und Tante (Kate und Anne McGarrigle) sowie Schwester Martha Wainwright hier aufgetreten. Und erinnerte sich anekdotenreich zurück im Verlauf seines famosen Solokonzerts.
Viele Konzerte des 30. Rudolstadt-Festivals lassen sich gratis in der ARD-Audiothek nachhören – online unter http://www.ardaudiothek.de.