Geld verdienen an seinen eigenen Daten

Sich selbst vermarkten und mit den eigenen Daten Geld verdienen! Dies fordert Hannes Grassegger in «Das Kapital bin ich». Das Buch regt auch zum Nachdenken an, inwieweit George Orwells «1984» inzwischen Realität geworden ist.

Von Hans Bärtsch

Immer mehr (Gratis-)Programme und Dienste im Internet erlauben den Nutzern, sich mit dem Facebook-Konto anzumelden. So weit, so bequem. Nicht nur für den Nutzer, sondern auch für das soziale Netzwerk. Denn auf diese Weise können Facebook, aber auch Google, Twitter, Linkedin, Insta­gram, Whats App usw. Unmengen von Daten sammeln. Und damit Unmengen von Geld machen.

Hannes Grassegger, ehemaliger Inlandredaktor bei der «Südostschweiz», kritisiert in seinem im Juli 2014 erschienenen Buch «Das Kapital bin ich» genau diesen Umstand – nämlich dass andere mit unseren eigenen Daten reich werden. Er spricht von einem «goldenen Datenmeer», das wir selber in grosser Naivität weiter äufnen. Letztlich seien nicht Geheimdienste wie der ameri­kanische NSA die «Bösen», die wahren Datenkraken seien Firmen wie Apple und Google.

Digitale Leibeigenschaft

Grassegger geht so weit, uns als «digitale Leibeigene» zu bezeichnen. Er vergleicht die heutigen Internetnutzer mit den besitz­losen Bauern im Mittelalter. Diese erhielten gratis Land und lieferten dafür einen Teil der Ernte ab. Die Scholle von heute seien Plattformen (Blogs, Chats usw.), die wir mit Inhalten füllen. Die Erträge – unsere Daten und damit letztlich unsere Gedanken und Gefühle – gingen samt und sonders an die Plattformbetreiber.

Das World Economic Forum (WEF) veröffentlicht regelmässig Studien zum Thema Personal Data. Gemäss neusten Schätzungen sollen die persönlichen Daten aller Europäer 2020 eine Billion Euro wert sein. Grassegger fordert in seinem äusserst lesenswerten Buch nicht weniger, als daran zu partizipieren. Jeder Europäer könnte pro Monat 250 Euro verdienen, wenn er seine Daten selber vermarkten würde. Erste Bestrebungen dazu, wie das gehen soll, gibt es. Grassegger rät vorerst einmal zur «künstlichen Verknappung unserer persönlichen Daten».

Freiwillig gewähltes «1984»

Die Lektüre von «Das Kapital bin ich» erinnert streckenweise an George Orwells «1984». In seinem Zukunftsroman zeichnete der britische Schriftsteller kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Bild eines totalitären Überwachungsstaates. Daraus etablierte sich der Begriff des «Big Brother», der in die letzten Geheimnisse jedes Menschen Einblick hat. Obwohl Orwells Intention eine ganz andere war, darf man sich tatsächlich fragen, ob die heutigen Social-Media-Datenströme nicht unser «1984» ist – fatalerweise ein freiwillig gewähltes.

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Hannes Grassegger: «Das Kapital bin ich – Schluss mit der digitalen Leibeigenschaft». Verlag Kein & Aber. 80 Seiten. 9.90 Franken.

pdf Südostschweiz (01.07.2014)

«Hier ist die Seele des Montreux Jazz Festival zuhause»

Im und um das Music & Convention Centre finden die Konzerte des Montreux Jazz Festival statt. Die «Seele» des Anlasses ist aber das Chalet des verstorbenen Festival-Gründers Claude Nobs. Die «Südostschweiz» war zu Besuch.

Von Hans Bärtsch (Text und Bilder)

Montreux. – Von Traurigkeit keine Spur im Chalet Le Picotin in Caux hoch über Montreux, obwohl der Hausherr fehlt, für immer. Die Besucher – an diesem Tag im Juli 2014 vor allem Medienschaffende aus dem In- und Ausland – geben sich die Klinke in die Hand. Und sind gleich mittendrin in der Welt des vor eineinhalb Jahren verstorbenen Claude Nobs, Gründer und bis zuletzt Spiritus rector des Montreux Jazz Festival.

Nebst allen Konzertaufnahmen hat Claude Nobs auch Instrumente gesammelt.

Claude Nobs hat auch Instrumente gesammelt – etliche dieser Gitarren waren Geschenke.

 

Auf riesigen Bildschirmen läuft in 1a-Ton- und Bildqualität das fantastische Konzert, das Robert Plant am Vorabend gegeben hat. Der ehemalige Sänger von Led Zeppelin, der sich vor wenigen Jahren einer dreistelligen Millionensumme verweigerte, um nicht die «wandelnde Jukebox einer Hardrock-Legende» sein zu müssen, ist mit den Sensational Space Shifters zugange. Die neue Band an Plants Seite ist in der Tat sensationell. Rockiger Blues ist die Basis, aber auch Rock’n’Roll, Folk, Country, Bluegrass, Westcoast-Rock und Orientalisches hat seinen Platz. Dem Zeppelin-Erbe verweigert sich der 65-jährige Lockenkopf nicht, tut das aber dosiert und mit Witz. Den Klassiker «Whole Lotta Love» gibts mit einem afrikanisch-irischen Intermezzo. Selten hat man einen Altstar so jung und mit Vorwärtsdrang statt zurückblickend am Werk gesehen. Auf das im September erscheinende Debutalbum von Plant und seinen Sensational Space Shifters darf man sich freuen.

The Nobs als Alternativname

Dieser Meinung ist auch Thierry Amsallem, für ein Vierteljahrhundert Nobs Lebenspartner und jetzt Verwalter der Schätze, die im Chalet Le Picotin angehäuft sind. Er hat gleich auch eine Anekdote zur Hand zu Led Zeppelin, die in den Siebzigerjahren mehr als einmal in Montreux aufgetreten sind. In einem kritischen Karrieremoment steckend, hätte die Band erwogen, sich neu The Nobs (!) zu nennen. So weit kams dann ja nicht, obwohl ein ernsthafter Rechtsstreit drohte – weil ein Nachfahre des Luftschiffbauers Graf Zeppelin den Namen für sich reklamierte. Schmunzeln in der Runde. Ob Plant auch diesmal ins Chalet hochgekommen sei, will einer wissen. Amsallem bejaht. Einträge im Gästebuch bezeugen, dass der Ort immer noch ein starker Anziehungspunkt ist für Künstler, die am Festival auftreten. Vor allem das Kino unter dem Dach mit ausrangierten Erstklass-Sesseln der Swissair und einer unglaublichen Sound-/Videoanlage.

Blick vom Garten mit dem Saxofon spielenden Elefanten über Montreux und den Genfersee.

Blick vom Garten mit dem Saxofon spielenden Elefanten über Montreux und den Genfersee.

 

Das Herzstück des Chalets ist ein Betonbunker, wo die Bänder mit sämtlichen Aufnahmen lagern, die am Festival gemacht wurden. Und das ist in Ton und Bild praktisch lückenlos alles, was seit 1967 auf den Hauptbühnen stattgefunden hat. Im nächsten Jahr soll die Digitalisierung der Bänder durch die EPFL (das welsche Pendant zur ETH) abgeschlossen sein. Es sind derart unglaubliche Datenmengen, dass man sich am besten mit diesem Bild behilft: Es bräuchte mehr als 20’000 iPods, um die Musik darauf unterzubringen.

Inzwischen sind auch Festivalchef Mathieu Jaton und Shohachi Sakurai zu unserer Gruppe gestossen. Letzterer ist ein ehemaliger hochrangiger Sony-Manager, der dem Montreux Jazz Festival die ersten Aufnahmen in HD-Qualität ermöglichte. Vorreiter in Sachen Technik war das Festival zusammen mit Partnern wie dem japanischen Elektronikkonzern Sony schon immer – diesbezüglich durfte es immer nur das Beste sein. Die Verbundenheit des Festivals mit Japan äussert sich dieses Jahr im Übrigen auch in einem Japan Day.

Aufnahmen als Teil des Vertrags

Geben eigentlich alle Künstler, Agenturen und Plattenfirmen freimütig ihr Einverständnis zu den Aufnahmen? Laut Festivalchef Jaton ist das Bestandteil der Verträge. Aber grundsätzlich wüssten alle Beteiligte nur zu gut, wie wertvoll diese hochklassigen Aufnahmen seien. Und sie seien ja in erster Linie fürs Archiv vorgesehen. Allfällige Veröffentlichungen auf CD/DVD oder eine Freigabe für einen TV-Sender würden zu einem späteren Zeitpunkt neu verhandelt. Sukzessive soll das Archiv, das zum kulturellen Unesco-Welterbe gehört, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Eventuell auch im Chalet Le Picotin selber, darüber will die Stiftung, die das Erbe des Montreux Jazz Festival mitverwaltet, noch dieses Jahr entscheiden. Vorerst können sich Besucher der immer mehr werdenden Montreux Jazz Café an kleinen Archiv-Häppchen erfreuen. Als jüngstes Glied in dieser Café-Kette wurde just zum Beginn des diesjährigen, 48. Festivals im «Fairmont Le Montreux Palace» ein Montreux Jazz Café in Betrieb genommen.

Überall Sammelstücke und Bildschirme, über die Konzerte flimmern.

Überall im Chalet Sammelstücke und Grossbildschirme, über die Konzerte flimmern.

 

Bleibt zum Abschied ein Blick vom Wohnzimmer des Chalets über den Garten, wo die Skulptur eines Saxofon spielenden Elefanten steht, hinunter nach Montreux und über den wolkenverhangenen Genfersee. «Spürt Ihr das, hier ist die Seele des Montreux Jazz Festival zuhause», sagt jemand. Niemand, der widersprechen wollte. Nur zu gut ist der Geist dieses einmaligen Festivals hier zu spüren.

pdf Südostschweiz (12.07.2014)