Paléo: Das Festival mit Vorbildcharakter

Grosse Bühne, viel Publikum: Joan Baez bei ihrem Auftritt am Paléo-Festival 2015.

Grosse Bühne, viel Publikum: Joan Baez bei ihrem Auftritt am Paléo-Festival 2015.

Seit Jahren ist das Paléo-Festival in Nyon am Genfersee ausverkauft. Das ist auch bei der 40. Ausgabe, die morgen Sonntag zu Ende geht, nicht anders. Auf Spurensuche, was den Erfolg des Anlasses ausmacht, und weshalb manche Konkurrenten sich bei diesem Open Air viel abschauen könnten.

Von Hans Bärtsch (Text und Bilder)

Erst auf den zweiten Blick fallen die grossen roten Blumen auf dem kleinen Wiesenstück auf. Es sind künstliche Blumen, die einen schönen Kontrast zur grünen Wiese bilden. Bei Nacht, wenn die Bäume in der unmittelbaren Umgebung mit bunten LED-Lichtern beleuchtet sind, präsentiert sich die Szenerie nochmals anders, fast schon märchenhaft-kitschig. Besucher lümmeln sich in bequemen Sitzkissen, fühlen sich offenbar angetan von der anmächeligen Umgebung.

Es ist dies nur ein Beispiel, mit wie viel Liebe und Sorgfalt das Festivalgelände L’Asse etwas oberhalb von Nyon für das alljährliche Paléo mit täglich an die 40’000 Besuchern hergerichtet wird. Es sind unzählige Details, die zur entspannten Atmosphäre an diesem seit nunmehr 40 Jahren bestehenden Anlass beitragen. Seit elf Jahren gehört auch die Zusammenarbeit mit der HES-SO Fachhochschule Westschweiz dazu. Studenten können das Paléo als Kreativitätslabor nutzen, dem Publikum auf spielerische Art ein wissenschaftliches Thema zu vermitteln. Diesmal heisst das Projekt Air Factory. Es geht unter anderem um den eigenen Atem, aber auch um die Erde, die in gewissen Bereichen aus dem letzten Loch pfeift. Lehrreich und unterhaltsam ist das zugleich, bloss schulmeisterlich ist die Air Factory nie.

Auch die Kleinen sind willkommen

Zum festen Bestandteil des Paléo gehört auch ein Bereich, der sich La Ruche nennt. Es ist das Reich der Zirkus- und Strassenkünste, in dem alle Sinne bedient werden. Heuer etwa mit einer Pizzeria, wo in Form einer turbulent-witzigen Theaterinszenierung Pizzen gebacken werden. Oder – Sachen gibts – wo aus einer Wand von alten Apparaten Radiowellen gemixt werden. Schliesslich gibt es jenen Bereich, wo alle über 1.40 Meter Körpergrösse keinen Zutritt haben. Die Eltern können sich ja an der Bar verlustieren – oder sich eine Fotoausstellung zu Gemüte führen mit tollen Porträts von Menschen, die hinter den Kulissen des Paléo anzutreffen sind.

Bunte Vielfalt: A Moving Sound präsentieren traditionelle Tänze und Gesänge aus Taiwan.

Bunte Vielfalt: A Moving Sound präsentieren traditionelle Tänze und Gesänge aus Taiwan.

Nochmaliger Ortswechsel: Das Village du Monde ist inzwischen ebenfalls nicht mehr wegzudenken. Jedes Jahr wird in diesem «Dorf» eine andere Weltgegend vorgestellt, diesmal ist es der Ferne Osten, Wiege einer jahrtausendealten Zivilisation. Aber auch zahlloser Kontraste, unterschiedlicher Traditionen und Kulturen, schliesslich umfasst das Gebiet Länder wie die Mongolei, Teile Russlands, China, Japan, Taiwan, Südkorea und ganz Südostasien mit Vietnam, den Philippinen, Thailand. Die markanten Eingangstore suggerieren den Eintritt in eine Tempelanlage. An einen Ort jedenfalls, der zum Entdecken einlädt. Wer kulinarisch auf Abenteuer aus ist, kommt hier garantiert auf seine Kosten. Und auch in Sachen Kunsthandwerk und Animationen wird einiges geboten.

Nur ein kleiner Ausschnitt

Musikalisch wird der Ferne Osten im Dôme, wie die Zeltbühne im Village du Monde heisst, abgebildet. Dort zeigen sich die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der verschiedenen Länder auf geradezu extreme Weise. Die Gruppe Second Hand Rose etwa gibt das aufstrebende China wieder. Dies allerdings mit einer Mixtur aus traditionellen chinesischen Melodien und dem grässlichsten, was der Westen in Sachen Rock hervorgebracht hat. Aber es ist Nachsicht angebracht gegenüber Künstlern, die es in ihrer Heimat trotz Riesenschritten in die Moderne noch immer alles andere als einfach haben. Was in Peking Provokation sein mag, tönt in Nyon provinziell-peinlich. Wie anders demgegenüber A Moving Sound aus Taiwan. Diese Gruppe geht mit dem reichen Erbe ihres und umliegender Länder weit behutsamer um. Der zeitgenössische Ansatz ist minimalistisch gehalten – und umso gewinnbringender für den westlichen Hörer. Desgleichen bei der Paradise Bangkok Molam International Band aus Thailand oder Noreum Machi aus Südkorea.

Womit wir bei den «normalen» Musikdarbietungen des 40. Paléo wären. Auf der grössten Bühne zeigte sich Robbie Williams am Montag als grandioser Entertainer – es war die perfekte Eröffnung des jubiläumshalber um einen Tag verlängerten Festivals. Am Dienstag gabs grottenschlecht abgemischte Kings Of Leon, am Mittwoch einen bieder-langweiligen Sting, am Donnerstag mit Johnny Hallyday den französischen Rock’n’Roll-Star schlechthin. Die Unantastbarkeit dieser Legende ist musikalisch – nüchtern betrachtet – nur schwer zu begründen.

Eine der Entdeckungen am diesjährigen Paléo: der Senegalese Faada Freddy. (Pressebild)

Eine der Entdeckungen am diesjährigen Paléo: der Senegalese Faada Freddy. (Pressebild)

Auf den kleineren Bühnen gabs derweil viel Interessantes zu entdecken. Ein absoluter Höhepunkt aus Sicht des Schreibenden war der Auftritt des Senegalesen Faada Freddy. So frisch, frech und mitreissend hat schon lange kein Gospel, Soul und Rap umfassendes A-cappella-Konzert mehr geklungen wie das von Freddy und seinen fünf exzellenten Begleitsängern. Auch deshalb ist das Paléo übrigens ein Festival mit Vorbildcharakter: Es wird nicht nur sattsam Bekanntes programmiert. Was wiederum die Entdeckungslust der altermässig schön durchmischten Besucherschaft beflügelt, wie das sich immer mehr füllende Zelt bei Faada Freddys Auftritt zeigte. Wer dort war, ging bis zum Finale nicht wieder.

KASTEN

Nur drei Prozent Deutschschweizer

Zum 40. Paléo werden 270’000 Besucher erwartet. Es ist damit das grösste Open-Air-Festival der Schweiz. Eine Umfrage der Haute Ecole de Gestion de Genève von 2013 zeigt, dass es auch zu den beliebtesten gehört. 84 Prozent des Publikums denkt nächstes Jahr wieder zu kommen, 15 Prozent vielleicht, was die Schlussfolgerung einer 99-prozentigen Publikumstreue zulässt. 88 Prozent der Besucher stammen aus der Westschweiz, neun Prozent aus dem Ausland und nur gerade drei Prozent aus der Deutschschweiz und dem Tessin. (hb)

pdf Südostschweiz (25.07.2015)

Von der Erstbegegnung bis zum vertrauten Wiederhören

Portishead au Montreux Jazz Festival

Portishead am Montreux Jazz Festival. (Foto: Lionel Flusin)

Ein Festivalprogramm ist idealerweise eine stimmige Kombination von alt und neu. In Montreux wird die Kunst einer solchen Programmierung besonders gut beherrscht. Drei Beispiele.

Von Hans Bärtsch

Portishead? Natürlich, die Trip-Hop-Pioniere, kennt man. Aber wer, bitteschön, versteckt sich hinter dem Namen Thought Forms? Die Singer/Songwriterin Sophie Hunger muss man niemandem mehr vorstellen. Wie verhält es sich demgegenüber mit Jack Garratt? Oder Dub Inc: In Reggae-Kreisen und recht weit darüber hinaus sind die Franzosen längst ein Begriff. Wer kennt dagegen Protoje & The Indiggnation?

Satter Reggae von Protoje & The Indiggnation. (Foto: Marc Ducrest)

Satter Reggae von Protoje & The Indiggnation. (Foto: Marc Ducrest)

Die drei Beispiele sind nicht zufällig gewählt. Weil symptomatisch für das Montreux Jazz Festival, wo gerne bekannt zu un- beziehungsweise noch nicht bekannt gestellt wird, alt zu neu. Was für das Publikum wiederum zu Neuentdeckungen führt. Am Samstag etwa, das Lab war für die frühe Uhrzeit schon ordentlich gefüllt, glaubte man dem Soundcheck der ersten Gruppe beizuwohnen. Techniker wuselten noch auf der Bühne umher, obwohl der satte Groove bereits perfekt aus den Boxen rollte. Und das ging dann immer weiter, bis ein Sänger die Bühne stürmte. Unvermittelt war man mitten drin im Konzert des jamaikanischen Reggae- und Dancehall-Sängers Protoje und dessen Begleitformation The Indiggnation. Und wurde eine Stunde lang von Vertretern eines Musikstils unterhalten, der seit Längerem nicht mehr allzuviel Neues hergibt. Umso erstaunter musste man konstatieren, wie wenig es braucht für ein mitreissendes Konzert, das zum Grossteil aus altmodischem Roots-Reggae besteht – gute, griffige Songs, mal eine Ska-mässige Uptempo-Nummer dazwischen, eine perfekt harmonierende Band und eine Sänger, der das Publikum ohne den Clown zu machen um den kleinen Finger zu wickeln versteht. Sowas lässt man sich gern gefallen.

Ein experimentierfreudiger Jack Garratt. (Foto: Daniel Balmat)

Ein experimentierfreudiger Jack Garratt. (Foto: Daniel Balmat)

Ein «Next Hype» der BBC

Etwas anders verhält es sich mit Jack Garratt. Der bärtige Brite wird von BBC Radio als «Next Hype» gehandelt. Ob zu Recht oder zu Unrecht, wird, wie immer in solchen Fällen, erst die Zukunft weisen. Jedenfalls wird der Wunderknabe diesen Sommer von einem zum nächsten Renommierfestival gereicht, vom Glastonbury ans Reading und eben nach Montreux (nur um einen Tag später am kleinen, aber feinen Poolbar in Feldkirch aufzuspielen). Was Garratt auf der Bühne anstellt, hinterlässt tatsächlich Eindruck. Er, der von sich selber sagt, im Blues von Stevie Ray Vaughan, in den Riffs von Jack White und im souligen R’n’B von Frank Ocean Inspiration zu finden, ist live eine Einmann-Show. Auf diversem elektronischem Instrumentarium gibt er verquere, stilistisch nicht einfach zu verortende Songs zum Besten. Es sind Lieder, die einen als Zuhörer an den Haken nehmen und nicht mehr loslassen. Das Repertoire ist erst klein, aber die Intensität mit der dieses von Garratt wiedergegeben wird, umso grösser. Ein Minikonzert, was die Dauer anbelangt – aber eines von maximaler Wirkung.

Melodiöse Soundflächen von Thought Forms. (Foto: Lionel Flusin)

Melodiöse Soundflächen von Thought Forms. (Foto: Lionel Flusin)

Womit wir bei Thought Forms wären, der dritten «Unbekannten» in unserer Betrachtung. Hier ist mindestens die Zuordnung einfacher. Das britische Trio hat sich dem sogenannten Postrock verschrieben, die Vorbilder heissen Sonic Youth, My Bloody Valentine, Mogwai. Auch Thought Forms schafften es, bleibende Eindrücke zu hinterlassen, weil ihre Soundflächen mit schönen Melodielinien versetzt sind.

Ach ja, dass sie – im Gegensatz zu den andern beiden genannten Beispielen – die Hauptband des Abends nicht in den Schatten zu stellen vermochten, lag schlicht und ergreifend an der Übergrösse von Portishead. Für die Trip-Hop-Pioniere war es der allererste Auftritt am Montreux Jazz Festival überhaupt. Die Eindringlichkeit der düsteren Sounds fesselt noch immer, gerade auch in Kombination mit absolut berauschenden Visuals, die das Konzert von A bis Z begleiteten. Kaum zu glauben, dass Portishead in ihren Anfangsjahren nicht als «Next Hype» nach Montreux eingeladen waren.

KASTEN

Blues und Soul in alter Grösse

Blues und Soul steht in Montreux immer auf dem Programm, mal etwas mehr, mal etwas weniger schwergewichtig. Einen starken Eindruck im Bereich Soul hinterliessen dieses Jahr Mary J. Blige und D’Angelo & The Vanguard, die gemeinsam einen Abend bestritten. Noch selten hat der Schreibende im Auditorium Stravinski einen derart frenetischen, lauten Applaus gehört wie bei Blige, die ohne Punkt und Komma durch eine hochenergetische Show jagte. So, als wollte sie sagen: Ja, es ist lange her seit dem letzten Mal hier, aber ich habe meine grössten Probleme hinter mir und zeige es jetzt allen. Was sie tat. Desgleichen D’Angelo, auch er jahrelang in der Versenkung verschwunden. Nur um mit neuen Songs und einer unglaublich toughen Band aufzuspielen, dass einem der Atem wegzubleiben drohte. Es war mitunter fast zu viel des Guten, was D’Angelo in seinen musikalisch hochkomplexen Auftritt fasste. Einfacher, rustikaler ging es beim Konzert von Alabama Shakes zu und her. Hier erklang mit Brittany Howard eine der besten aktuellen Stimmen des Blues und amerikanischen Südstaaten-Rocks. Und dies zur Veredelung knackiger, meist eher kürzerer Songs im besten CCR-Stil. (hb)

Knackiger Blues von Alabama Shakes. (Foto: Lionel Flusin)

Knackiger Blues von Alabama Shakes. (Foto: Lionel Flusin)

pdf Südostschweiz (13.07.2015)

Wo die leisesten Töne die grössten Emotionen wecken

Tony Bennett & Lady Gaga at the 49th Montreux Jazz Festival, (c) 2015 FFJM-Marc Ducrest

Tony Bennett & Lady Gaga at the 49th Montreux Jazz Festival, (c) 2015 FFJM-Marc Ducrest

Das 49. Montreux Jazz Festival ist fulminant gestartet. Mit einem Jazzabend alter Schule als bisherigem Höhepunkt. Und etlichen weiteren «leisen» Konzerten, die manch ein lautes zu übertönen und in Sachen Emotionen hinter sich zu lassen vermochte.

Von Hans Bärtsch

Die Szene ist symptomatisch. Als der irische Songwriter Damien Rice die Konzertbesucher bittet, doch auf Handyfotos zu verzichten, werden die, die es trotzdem wagen, von den Umstehenden mit höflichen, aber bestimmten Blicken in die Schranken gewiesen. Ein, zwei «Pssst!» lassen die letzten Privatgespräche verstummen. Und dann ist das Publikum voll bei ihm, diesem Sänger von wenig erbaulichen Themen (vorwiegend nicht endenwollender Liebeskummer), der mit seiner offenbarten Selbstunsicherheit und seinem verwuselten Äusseren Mutterinstinkte weckt. Allein steht er da auf der grossen Bühne des Auditorium Stravinski, meist mit der Gitarre in der Hand, ab und an zum Flügel wechselnd, die Stimme hoch, manchmal mehr Qual als Freude bereitend. Das Licht ist auf intim gestellt, ein paar wenige Scheinwerfer genügend.

Miniaturen auf allem, was Tasten hat

Es ist das dritte «leise» Konzert an diesem Dienstagabend, nach der schwedischen Folkpop-Sängerin Mariam Wallentin alias Mariam The Believer, mit der Rice im Zugabenblock noch eine improvisierte Nummer gemeinsam singt. Dazwischen gibt der Deutsche Nils Frahm den Neoklassiker, der den Elektroniker in sich nicht verstecken will. Seine Melodie-Miniaturen, gespielt auf allem, was Tasten hat, bekommen dadurch eine enorme Sogkraft, werden regelrecht tanzbar. Aber wie gesagt: Auch hier wird in erster Linie konzentriert zugehört.

Tastenmagier: Nils Frahm fasziniert bei seinem Auftritt am Montreux Jazz Festival. (Foto: Lionel Flusin)

Tastenmagier: Nils Frahm fasziniert bei seinem Auftritt am Montreux Jazz Festival. (Foto: Lionel Flusin)

Diese Konzentration auf die Künstler und Bands erlaubt dem Montreux Jazz Festival eine andere Programmation als auf Festivals, an denen es vor allem um Rambazamba geht. Darum, das ist klar, geht es in Montreux auch. Die Antwoord aus Südafrika etwa verwandeln das Lab, wie der Saal für «jüngere» Musik heisst, mit ihrem Rap’n’Rave in einen Hexenkessel. Dasselbe schaffen die Chemical Brothers mit harten elektronischen Beats. Oder Sam Smith, der nach einer Stimmbandoperation wiedergenese britische Wunderknabe des Soulpop, der live allerdings zu stark auf biedere Mitmacheffekte setzt und Vieles, was die Magie seines grossartigen (und bisher einzigen) Albums «In The Lonely Hour» ausmacht, in den Sand setzt.

Die Schöne und das Biest

Gar nichts in den Sand gesetzt wird am Montag beim Exklusivauftritt der letzten lebenden Crooner-Legende, Tony Bennett, begleitet von einem Superstar des Pop, Lady Gaga. Eine Kombination, die undenkbar schien bis zum Erscheinen eines gemeinsamen Albums namens «Cheek To Cheek» im letzten Jahr, gefolgt von einer Tour der beiden äusserst unterschiedlichen Persönlichkeiten. Der Schreibende räumt an dieser Stelle frank und frei ein, von der Italoamerikanerin Stefani Germanotta, wie Lady Gaga bürgerlich heisst, bis dato noch gar nie auch nur das Geringste gehalten zu haben. Eine Kunstfigur des Pop, mit Einsatz ihres ganzen Körpers lediglich auf Provokation aus: Das war der Madonna-Klon in seinen Augen. Eine Stilikone? Wohlan. Aber was, bitteschön, hat ihr gesichtsloses, von Legionen Produzenten aufgemotztes Disco-Gestampfe mit Musik zu tun?

Erinnerungsstück eines weiblichen Fans: Die Setlist von Lady Gaga und Tony Bennett. (Foto: Hans Bärtsch)

Erinnerungsstück eines weiblichen Fans: Die Setlist von Lady Gaga und Tony Bennett. (Foto: Hans Bärtsch)

Nun hebt also der 88-jährige Bennett zum ersten Song «Anything Goes» von Cole Porter an, heisst Lady Gaga auf der Bühne willkommen – und die Dame singt, dass es einem Schauer den Rücken rauf und runter jagt. Mit einer Stimme, die wie gemacht ist für das Great American Songbook und damit die grössten der grossen Klassiker des Jazz. Hier er, ein bescheidener älterer Herr mit Swing in Stimme und Knochen. Dort sie, die Diva, der ein Wimpernschlag genügt, um das männliche Geschlecht um den Verstand zu bringen. Gemeinsam ist ihnen der Respekt zueinander. Meist nah beieinander stehend, oft Hand in Hand singen sie Duette, die für die Ewigkeit gemacht sind. Nicht immer astrein, gerade zu Beginn des zwei Stunden dauernden und rund 30 Songs umfassenden Programms. Das – bewusst? – Unperfekte macht den noch besondereren Reiz dieser erstaunlichen Kooperation aus.

Es wird kokettiert, was das Zeug hält

Gaga und Bennett lassen einander auch Platz für Soli. Sie etwa gibt eine umwerfende Fassung von «La Vie En Rose» zum Besten. Er ein berührendes «Smile», zu dem ihm dereinst der Komponist des Liedes, der «Schweizer» Charlie Chaplin gratuliert habe. Während sie acht Mal die Garderobe wechselt (und auch die Frisur), bleibt er seinem einen, eine Spur zu grossen Anzug treu. Das mögen Äusserlichkeiten sein, in diesem Kontext gehören sie zu einer durchchoreografierten Bühnenshow. Ihm tut die Blutauffrischung durch die 29-Jährige gut, ihr die Erdung durch den mit allen Entertainment-Wassern gewaschenen US-amerikanischen Sänger. Es wird kokettiert, was das Zeug hält, nur um musikalisch wieder am selben Strick zu ziehen – hier mit Stimmwucht, dort mit Souplesse. Kurzum: Das Montreux Jazz Festival ist um einen legendären Konzertabend reicher. Und das mit altmodischem Swing-Jazz im Stile Frank Sinatras – wer hätte das gedacht.

KASTEN 1

Das Great American Songbook

Der Begriff Great American Songbook umfasst herausragende Songs der US-Unterhaltungsmusik aus dem Zeitraum 1930 bis 1960. Zu den bekanntesten Komponisten/Interpreten dieser einmaligen Ära gehören etwa Cole Porter («I’ve Got You Under My Skin»), Irving Berlin («White Christmas»), Duke Ellington («In A Sentimental Mood»), Frank Sinatra («My Way»). Crooner nennt man die Interpreten dieser schmachtend gesungenen, schmalzig-schlagerhaften Songs.

KASTEN 2

Diva-Gehabe

Beim Konzert von Tony Bennett und Lady Gaga am Montreux Jazz Festival waren keine unabhängigen Fotografen zugelassen, sondern nur ein Festival-eigener Fotograf. Von dessen Aufnahmen wiederum gab das Management von Lady Gaga nur gerade eine einzige Aufnahme frei. Unnötiges Superstar-Gehabe, darf man dieser Restriktion für die Fotografenzunft anfügen.

pdf Südostschweiz (09.07.2015)