Island hat, gemessen an der Bevölkerungszahl, eine äusserst reichhaltige Musikszene. Das zeigte sich einmal mehr am diesjährigen Talentfestival Iceland Airwaves in Reykjavík.
Von Hans Bärtsch (Text und Bilder)
Reykjavík. – Ein Name überstrahlt sie nach wie vor alle, gilt gleichzeitig als Initialzündung für den erfolggekrönten Musikexport der letzten Jahre, vor allem aber auch für innovatives, im besten Sinne eigensinniges Popmusikschaffen: Björk. Die heute 49-Jährige hat Ende der Neunzigerjahre mit der Band Sugarcubes und danach solo weltweit Aufmerksamkeit erregt – Aufmerksamkeit auch auf den Inselstaat im hohen Norden, woher sie stammt.

Konzertort für Rebekka Sif: das Schaufenster des Kleiderladens Cintamani
Island, flächenmässig rund zweieinhalbmal grösser als die Schweiz, aber lediglich von knapp 330 000 Menschen bewohnt, ist ein kreatives Pflaster, wie sich bei der 15. Auflage des Talentfestivals Iceland Airwaves Anfang November eindrücklich bestätigte. Hunderte von Einzelkünstlern und Gruppen präsentierten sich im offiziellen Programm. Noch reichhaltiger waren die gratis zugänglichen Off-Venue-Konzerte an allen möglichen und unmöglichen Orten in Reykjavík – in Kaffees, Bars und Hotels, in Bibliotheken und Galerien, in Schaufenstern und Jugendherbergen, in Plattenläden und Kinos, in einem Heilsarmee-Lokal und dem EU-Informationscenter. Kurz: Das Iceland Airwaves bescherte der isländischen Hauptstadt einmal mehr den musikalischen Ausnahmezustand.
Originell in allen Belangen
Der Schreibende schaffte während des fünftägigen Festivals 35 in der Regel halbstündige Konzerte, rund zwei Drittel davon einheimische Acts, der Rest aufstrebende Bands aus diversen europäischen Ländern und den USA. Björk war beim einen oder andern Talent das unüberhörbare Vorbild, auch im Bereich Elektro und Hardrock tönte einiges sattsam bekannt. Das Rad wird also auch in Island nicht alle Tage neu erfunden. Umso grösser die Freude, die andere, frisch von der Leber weg musizierende Künstlerinnen und Künstler bereiteten. Originell bezüglich eigenständigem Songwriting und Präsentation.

Auftritt in intimem Rahmen: In der Bar «Bravó» gibt Snorri Helgason eigene Lieder und Covers zum Besten.
In einem neuen Dokumentarfilm über die isländische Musikszene, der am Airwaves uraufgeführt wurde, werden die Erfolgsgeheimnisse praktisch unisono benannt. Eines davon sei – wortwörtlich – in der Natur des Landes zu suchen: Wer auf dem dünn besiedelten Land aufwachse, habe in jungen Jahren oft nicht viel anderes zu tun, als allein oder mit Gleichgesinnten zu musizieren. Positiv wirke sich diesbezüglich die schulische Bildung im Bereich Musik aus. Vor allem aber, so geht aus der vom Online-Kulturmagazin «405» realisierten Doku «Tónlist» hervor, würden die Vertreter der Szene sich untereinander nicht konkurrenzieren, sondern miteinander kooperieren. Und das führe des Öftern zu überraschenden, sich gegenseitig bereichernden Konstellationen.
Das Beste aus zwei Welten
Eine dieser Genre-übergreifenden Zusammenarbeiten ist jene von Ólafur Arnalds und Janus Rasmussen. Ersterer kommt vom Punk her und verbindet heute global erfolgreich Klassik mit Elektroklängen, basierend auf einem präparierten Piano. Letzterer ist Mitglied der Bloodgroup, die sich verschrobenen Discobeats verschrieben hat. Gemeinsam haben sie unter dem Namen Kiasmos eine CD aufgenommen, die das Beste dieser zwei musikalischen Welten vereinigt und die Weite des Landes zu atmen scheint. Es pocht und blubbert in bester Elektropop-Manier, mit Streichern werden melancholische Songteppiche gelegt, das Klavier zeichnet behutsam Melodielinien. Die atmosphärische Musik von Kiasmos eignet sich zum Hören in der guten Stube, aber auch zum Abtanzen, wie ein mitreissendes DJ-Set von Ólafur/Rasmussen mit speziellen Mixes des acht Songs starken Debütalbums zeigte.
Spontan Plattenvertrag offeriert
Ein anderer, selbst in Island noch weitgehend unbekannter Name ist Mafama. Das Quartett bezeichnet die Einflüsse als «mit allem, was zwischen Disco und Metal liegt». Rasiermesserscharfe Gitarrenklänge, elektronische Beats und ein charismatischer Sänger ergeben ein laut-wild-intensives Gemisch, das an die besten Rave-Zeiten «Madchesters» erinnert, an Bands wie Primal Scream, Stone Roses, Inspiral Carpets, Charlatans. Bei ihrem Auftritt in einem Plattenladen wurde den Mafama-Mitgliedern von einem begeisterten Talentspäher jedenfalls spontan ein Plattenvertrag offeriert. Ob inszeniert oder echt – auf das nächsten Sommer angekündigte erste Album darf man schon jetzt gespannt sein.

Rock, der groovt: Mafama bei ihrem Auftritt im Plattenladen Lucky Records.
«Welcome to the quiet hour», wurden die Besucher im kleinsten Saal des Konzerthauses Harpa beim Auftritt von My Bubba begrüsst. Und in der Tat – es war das Gegenteil der vorgängig beschriebenen Mafama. So leise und reduziert, dass man sich ob der berühmten Stecknadel, so sie denn zu Boden gefallen wäre, gehörig erschrocken hätte. Gleichwohl ist die (Folk-) Musik der Schwedin My und der Isländerin Bubba von unglaublicher Intensität, durch die sich umschmeichelnden Stimmen der beiden, dann aber auch durch die originelle Begleitung durch Stehbass, einen Schlagwerker und einen Gitarristen, die ihre Instrumente mehr streicheln als spielen.

Leise, aber umso intensiver: My Bubba spielen in einem der Harpa-Säle.
Nochmals von ganz anderem Charakter ist das international etablierte Sextett Árstídír. Stimmen, die in ihrer Klarheit für Gänsehaut sorgen, kammermusikalisch so raffiniert wie fein umrahmt, sorgen sie für die grossen Emotionen, wenngleich manchmal in gefährlicher Nähe zum Kitsch. Ebenfalls einer der Grossen ist Jóhann Jóhannsson. Dem Komponisten kam die Ehre zu, mit dem Iceland Symphony Orchestra die grosse Harpa-Konzerthalle zu bespielen – einer der weltbesten Konzertsäle überhaupt. Das Werk, das zum Besten gegeben wurde, war «The Miners’ Hymns» – die Musik zu historischen Filmaufnahmen, die über eine Zeitspanne von 100 Jahren den Niedergang einer englischen Kohleminen-Region dokumentieren.
Alles, was Rang und Namen hat
Ansonsten war am diesjährigen Iceland Airwaves alles mit von der Partie, was in der heimischen Szene Rang und Namen hat: FM Belfast, Agent Fresco, Sin Fang, Samaris, Mammút, Retro Stefson, Ólöf Arnalds, Ásgeir, Leaves, Sóley, Low Roar, Pétur Ben, Lay Low, Snorri Helgason. Ausgerechnet Kaleo, eine der hoffnungsvollsten Indie-Poprock-Gruppen, was eine internationale Karriere anbelangt, mussten krankheitshalber absagen. Das Quartett dürfte seinen Weg trotzdem machen.
Ach ja, eingangs erwähnte Björk war, wie praktisch jedes Jahr, ebenfalls am Festival. Allerdings nicht auf der Bühne, sondern in den Zuschauerrängen. Und augenscheinlich schien ihr vieles zu gefallen, was sie hörte.
KASTEN
Diesmal ohne Schweizer
Am Iceland Airwaves war in den letzten Jahren immer auch die eine oder andere Schweizer Band im Programm: OY beispielsweise, Boy oder Sophie Hunger. Heuer fand das Festival ohne Schweizer Beteiligung statt. Aus dem internationalen Programm stach der allerletzte Auftritt des schwedischen Elektropop-Duos The Knife heraus – das Konzert wurde zum vor allem auch visuell rauschenden Fest. Grossartig auch der Auftritt der Frauen-Rock’n’Roll-Band La Luz aus Seattle (USA).
Den krönenden Abschluss des Festivals machte die US-Band Flaming Lips mit einem fantastischen Bühnenbild, psychedelischen Lichtspielereien, Konfettiregen, Luftballons und einem Programm quer durchs ganze Schaffen – zum Glück mit nur einem Abstecher in Richtung des eben erschienenen, verunglückten Beatles-Coveralbums «With A Little Help From My Fwends». (hb)

Girlie-Rock’n’Roll: La Luz treten an einem der beliebtesten Off-Venue-Lokalitäten auf, dem KEX Hostel.
pdf Südostschweiz (18.11.2014)