Legenden, aber keine legendären Konzerte

Trotz grosser Stilvielfalt kommt am Montreux Jazz Festival auch einiges zu kurz: simpler Rock etwa. The Kills und Kasabian haben die Scharte ausgewetzt. Brian Wilson gab derweil ein Konzert für die Geschichtsbücher.

Von Hans Bärtsch

Es gibt Abende am Montreux Jazz Festival, da spürt man, die werden anders als andere. Am Montag beispielsweise strömen scharenweise junge, freiwillige Festival-Helferinnen und -Helfer in ihren Staff-T-Shirts ins Auditorium Stravinski, um zwei Bands zuzusehen, die das Haus in diesem Jahr zum ersten Mal so richtig rocken. Und bei denen offenbar auch der In-Faktor stimmt. Das britisch-amerikanische Duo The Kills – auf dieser Tour zum Quartett erweitert – gibt erstens optisch ordentlich was her. Sängerin Alison Mosshart würde auch auf dem Laufsteg eine gute Figur machen. Und Gitarrist Jamie Hince, als Ex von Kate Moss Model-erfahren, ist der ideale Sidekick. Wobei dieser Begriff untertrieben ist, wenn man, zweitens, die akustische Seite von The Kills anschaut. Die Gitarre ist das Epizentrum des musikalischen Sturms, der sich hier entlädt. Schmutziger Garagenrock, roh und reduziert, trifft auf eine Stimme, die durch Mark und Bein geht.

Wie bloss würden sich nach diesem Adrenalinschub Kasabian schlagen als zweite Band des Abends? Die Briten mit den schrecklichsten Frisuren und Outfits seit Oasis tun, was sie können. Und treiben die Party mit Dance-Elementen zu einem zweiten Höhepunkt. Man glaubt, die Madchester-Bewegung rund um Bands wie Happy Mondays, Stone Roses oder The Charlatans sei wieder auferstanden. Das erklärte Ziel von Gitarrist Sergio Pizzorno lautet ja auch nicht gerade bescheiden: «Wir wollen den Rock’n’Roll retten.» Was die Songs anbelangt, gibts auch nach sechs Alben noch Luft nach oben. Aber in Sachen Energie sind Kasabian mit ihren Livekonzerten voll auf Rettungskurs. Mehr harten Rock, verbunden mit einem noch höheren In-Faktor gabs im Übrigen gestern Abend mit dem famosen Duo Royal Blood.

Müder Dandy

Rückblende auf Sonntag, als es im Stravinski-Saal deutlich betulicher zu und her geht. Angekündigt sind zwei Legenden, beide jenseits der 70. Bryan Ferry ist noch immer der gutaussehende Dandy, der er schon zu Zeiten von Roxy Music war. Aber entweder fehlt ihm die Lust oder die Kraft. Der müde wirkende Sänger wird, zumeist am Piano sitzend, von einer äusserst agilen, spielfreudigen Band getragen. Zum Glück, die Freude an Roxy-Music-Klassikern und Werken aus Ferrys diversen Soloalben wäre sonst arg getrübt worden.

Bryan Ferry fehlt die Lust oder die Kraft. Immerhin: Der müde wirkende Sänger wird von einer spielfreudigen Band getragen.

Die Begleitband ist es auch, die den Auftritt von Brian Wilson ausmacht, des genialen Kopfes der Beach Boys. Auf dem Programm steht die integrale Präsentation von Wilsons Meisterwerk «Pet Sounds». Ein Album, rund 37 Minuten kurz, das den Beatles kompositorisch endgültig den Rang ablaufen sollte, zur Zeit der Erstehung wegen seiner Komplexität aber in erster Linie für Streit innerhalb der Band und mit der Plattenfirma sorgte. Und: Das Brian Wilson selber dermassen überforderte, dass er schwere psychische Probleme davontrug.

Trauriger Anblick

Es ist deshalb nicht weniger als ein Wunder, dass dieser Wilson sich derzeit auf Welttournee befindet und zum 50-Jahr-Jubiläum von «Pet Sounds» auch in Montreux Halt macht. Es ist gleichzeitig ein trauriger Anblick zu sehen, wie kraftlos der Maestro am Piano sitzt und die Texte vom Teleprompter abliest. Die gesanglichen Raffinessen in Songs wie «Sloop John B» oder «God Only Knows» stehen in umgekehrtem Verhältnis zu den heutigen stimmlichen Möglichkeiten Wilsons. Zum Glück, wie gesagt, stehen ihm hervorragende Musiker zur Seite. Unter anderem Al Jardine, ebenfalls ein Beach Boy der ersten Stunde, und dessen Sohn Matt Jardine.

Brian Wilson

Genialer Musiker, aber längst nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte: Brian Wilson (am Klavier), hier mit Beach-Boys-Mitbegründer Al Jardine am Montreux Jazz Festival 2017. (Bild Ueli Frey)

Der rührendste Moment ist eine ganz zum Schluss praktisch nur a-cappella wiedergegebene Version von «Love & Mercy» ab Wilsons erstem Soloalbum von 1988. Dies nach einem Hit-Medley aus der Beach-Boys-Küche, das nichts mit dem «Pet-Sounds»-Album zu tun hat. Aber mit einem 37-Minuten-Werk lässt sich schliesslich auch kein ganzes Konzert bestreiten. Jedenfalls: Der Abend mit Brian Wilson ist einer für die Geschichtsbücher des Montreux Jazz Festival, auch wenn er qualitativ nicht als legendär in Erinnerung bleiben wird.

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Folk mit einem wohltuenden Knacks

Die stilbildende Folkpop-Band Fleet Foxes hat dem Montreux Jazz Festival einen Konzertabend der Sonderklasse beschert. Auch, weil die Amerikaner mit ihrem jüngst erschienenen dritten Album noch komplexer geworden sind.

Von Hans Bärtsch

Die Gründe, weshalb die Formation um Sänger/Gitarrist Robin Pecknold auf ihrem dritten Album «Crack-Up» nicht komplett anders, aber doch erneuert klingt, wurden kürzlich an dieser Stelle ausgeführt (Ausgabe vom 17. Juni). Der Frontmann hatte nach den beiden ersten Alben, die die Fleet Foxes zur Speerspitze der Americana-Bewegung und Barttragen plus Holzfällerhemden für junge Menschen zu einem modischen Muss machten, dringend eine Auszeit benötigt. Pecknold nutzte diese für ein Literatur-, Kunst- und Musikstudium in New York.

Wie aus einem Guss

Wie würden sich die suitenartigeren, komplexeren, manchmal bewusst gebrochenen, sperrigeren Songs von «Crack-Up» ins Live-Repertoire der Fleet Foxes einfügen? Um es vorwegzunehmen: Problemlos, hervorragend gar! Mutig stellt das Sextett, das diese Woche am Montreux Jazz Festival gastierte, just die neuen Werke ins Zentrum und platziert dazwischen ältere Lieder. Früh im Lauf ihres gut zweistündigen Konzerts bereits Ohrwürmer wie «Ragged Wood» oder «Your Protector». Und das alles kommt daher wie aus einem Guss. Es ist ein hochkonzentrierter, aber doch auch lustvoller Auftritt. Der Harmoniegesang bleibt weiterhin das Markenzeichen der Band, wird aber nicht überstrapaziert. Phasenweise sind es vier Gitarren, die einen Song modellieren. Es ist diese Mischung aus perfekten Harmonien und Melodien – ja, da stehen Bands wie die Beach Boys, The Byrds oder Crosby, Stills, Nash & Young eindeutig Pate – und rhythmischen Raffinessen, welche die Band so einzigartig macht.

Die etwas naive Lagerfeuerromantik der Frühphase ist definitiv vorbei. Oder, wie es der «Tages-Anzeiger» formuliert hat: «Der Bart ist ab». Die «neuen» Fleet Foxes haben sich gewissermassen von sich selbst emanzipiert, und ihren unzähligen Nachfolgern/Nachahmern gleichzeitig ein Schnippchen geschlagen – gerade auch unsäglichen Zeitgenossen wie den Lumineers. Inhaltlich ist eine neue Ernsthaftigkeit dazugekommen, bei der noch nicht klar ist, wohin sie noch führen wird. Jedenfalls sind die Fleet Foxes eine der spannendsten Bands dieser Tage. Hoffentlich bleiben sie uns noch länger erhalten.

Gut geschnürtes Paket

Dass der Dienstagabend im Lab-Saal zu einem rundum beglückenden Erlebnis wurde, hatte auch mit den beiden Acts davor zu tun. Der New Yorker Singer/Songwriter Hamilton Leithauser – Frontmann der Indie-Rock-Gruppe The Walkmen – nimmt mit einer Stimme gefangen, die zwischen inbrünstigem Falsett und rockendem Knurren alles draufhat. Was natürlich alles nichts nützt, wenn gute Songs fehlen. Diesbezüglich ist bei Leithauser das Gegenteil der Fall. «A 1000 Times» etwa ist eine Hymne vor dem Herrn.

In Montreux liegen das Gute und das noch Bessere so nah.

Kevin Morby wiederum war einst Mitglied bei der noch immer unterschätzten Indie-Folk-Truppe Woods. Auf Solopfaden wandelt er seit rund vier Jahren. Und wirft dabei eine wandlungsfähige Stimme in die Waagschale und ein Händchen für knackige Kompositionen, die süssliche Folkmelodien umfassen wie härter rockende Stücke. Allen ist gemeinsam, dass sie ins Ohr gehen wie ein Messer durch Butter. Wie bei den andern Akteuren dieses famosen Abends pendelt auch er mit seinen Liedtexten zwischen persönlichen Geschichten und politischen Statements. Es mag abgegriffen klingen: Aber unsere heutigen Zeiten haben solche Künstler dringend nötig.

Pures Vergnügen

Um nichts als das pure Vergnügen geht es tags darauf im grossen Saal, dem Auditorium Stravinski. Trombone Shorty & Orleans Avenue sind eine Groove-Maschine, die kaum einmal Raum zum Durchatmen lassen. Die explosive Mischung aus Funk, Soul und Hip-Hop mag auf dem aktuellen Album «Parking Lot Symphony» etwas gar stark auf Massengeschmack getrimmt sein, live gibt es gar nichts auszusetzen. Die noch immer mehrheitlich aus Jugendfreunden zusammengesetzte sechsköpfige Band, darunter drei Bläser, hält das New-Orleans-Erbe hoch, bringt es dank neuen Elementen (Hip-Hop) aber auch einen gehörigen Schritt voran.

Die grossen Stars des Abends sind dann The Roots, die am Dienstag bereits die krankheitshalber ausgefallene Emeli Sandé mit einer kraftvollen Show ersetzten. Diesmal begleiten sie R&B-Star Usher und bleiben gleichzeitig die eigenständige, auf allerhöchstem Niveau agierende Black-Music-Truppe. Weil das zwischendurch doch etwas gar zu geschliffen daherkommt, wechselt der Schreibende in den Park vor dem Stravinski, wo Gratiskonzerte auf dem Programm stehen. Und bleibt bei The Urban Voodoo Machine hängen. Einer sehr theatralischen, bewusst auf unperfekt gemachten britischen Gypsy-Rock’n’Roll-Fuhre. Auch das ist Montreux – das Gute und das noch Bessere liegen hier so nah. Das Festival am Genfersee dauert noch bis zum 15. Juli.

http://www.montreuxjazzfestival.com

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