Sieben Geier und eine wilde Wally

Konzertkritik von Hans Bärtsch

Erika Stucky und Da Blechhauf'n (Foto: Nici Jost)

Erika Stucky und Da Blechhauf’n
(Bild Nici Jost)

 

Ausgerechnet, als er zu einem Solo eingeladen ist, ist er mucksmäuschenstill, der Zürichsee. Auch prasselt gerade kein Regen nieder. Nur der kühle Wind schlägt Blachen gegen Bühnengestänge. Trotz verpatztem Einsatz – es ist einer der magischen Momente auf der Seebühne des Theater Spektakels, wo die Amerika-Schweizerin Erika Stucky ihr neues Programm zur Uraufführung bringt. Zur Magie tragen ausgerechnet die widrigen äusseren Bedingungen bei – sie lassen Stucky und ihre Begleiter zusammenrücken und umso intensiver abheben in höchste musikalische Gefilde.

«Wally und die sieben Geier» heisst das Programm. Und mit den sieben Geiern ist das Septett Da Blechhauf’n gemeint. Eine Blechblasformation aus dem Burgenland in Österreich, die musikalisch vor gar nichts haltmacht. Die klassisch kann, volkstümlich, jazzig, funky, rockig. Wally (Stucky) ist dabei die Chef-Geierin, die bekannt begnadete Performerin aus dem Wallis mit ausgiebigem Hang zum Schrägen. Insofern haben sich da zwei getroffen, die allerbestens zusammenpassen. Zwei, die Genres durch­einanderwirbeln, dass einem als Zuhörer schier schwindlig wird.

Die Basis des Ganzen sind alpenländische Geschichten und Melodien. Aber nicht nur, und nicht lange. Psychedelisches (Pink Floyd) erklingt plötzlich, West­coast-Klänge (America), eine flotte Rock’n’Roll-Nummer von The Knack. Schliesslich, gleichsam der Höhepunkt des Abends, eine Version von «I Put A Spell On You», die fast an die Wildheit ihres Schöpfers, des US-Bluessängers Screamin’ Jay Hawkins, herankommt. Sicher aber x andere Interpretationen dieser Nummer in den Schatten stellt. Nach der zweiten Zugabe sind die Blechhauf’n-Mitglieder am Boden, wortwörtlich. Nur noch Sängerin Stucky und ihr Mini-Akkordeon geben die letzten Töne von sich. Es ist der Abschluss eines musi­kalisch – im positivsten Sinn – durchgeknallten Abends.

http://www.erikastucky.ch
http://www.blechhaufn.at

pdf Südostschweiz (20.08.2014)

«Anne»: Theaterstück gegen das Vergessen des Grauens

Anne Frank ist das wohl bekannteste Holocaust-Opfer. Ihr Tagebuch wird derzeit in Amsterdam neu dramatisiert auf die Bühne gebracht. Ein eindrückliches Stück gegen das Vergessen des Grauens – jetzt auch auf Deutsch übersetzt.

Von Hans Bärtsch

Amsterdam. – Dokumentar- und Spielfilme, Hörspiele, literarische Werke, Kompositionen, Musicals, Theaterinszenierungen. Gedenkorte, Statuen, Museen. Schulstoff. Welt­kulturerbe der Unesco. Das und viel mehr ist das «Tagebuch der Anne Frank», das und viel mehr hat dieses historische Dokument aus der Zeit des Nationalsozialismus bewirkt. Die Schrift des jüdischen Mädchens wurde in rund 70 Sprachen übersetzt und verkaufte sich bislang 70 Millionen Mal. Anne ist das wohl bekannteste Holocaust-Opfer, weil ihre Geschichte nicht nur eine Erinnerung an unglaubliche Gräueltaten, sondern auch ein Symbol der Hoffnung ist.

Anne und ihr geliebtes Tagebuch (Bild Kurt van der Elst)

Anne und ihr geliebtes Tagebuch.
(Bilder Kurt van der Elst)

 

Neues Stück, neues Theater

Doch die Zeit des Zweiten Weltkriegs rückt immer weiter weg, gerade für heutige, eher mit sozialen Medien denn mit Büchern aufwachsende Generationen. Damit nicht vergessen wird, was nicht vergessen werden darf, hat der Anne Frank Fonds in Basel, welcher die Rechte am «Tagebuch der Anne Frank» verwaltet, eine neue Dramatisierung in Auftrag gegeben. Das Stück des niederländischen Autorenpaares Leon de Winter und Jessica Durlacher läuft sein Mai in einem mit Geldern von Privatinvestoren erbauten, topmodern eingerichteten Theater im westlichen Hafen von Amsterdam. Der Premiere wohnten auch der niederländische König Willem-Alexander bei und Buddy Elias, der 89-jährige Cousin und letzte lebende direkte Verwandte von Anne Frank. Was sie sahen, hat seither Tausende von Besuchern zu Tränen gerührt.

Vom rebellischen Teenager …

De Winter/Durlacher konnten sich – erstmalig – der originalen Tagebuchtexte bedienen. Und zeigen die Anne – ideal verkörpert von der frischgebackenen Schauspielschul-Abgängerin Rosa da Silva – als lebhaften, manchmal auch nervigen Teenager. Sie sitzt eingangs in einem Pariser Café und trifft dort auf einen Verleger. Diese sich wiederholenden Treffen – Wunschgedanken der jungen Frau – sind das einzig fiktive am neu geschriebenen Stück. Diese Rahmenhandlung umfasst die Jahre 1940 bis 1944, von denen Anne und ihre Schwester mit den Eltern plus einer weiteren jüdischen Familie die letzten beiden auf engstem Raum in einem Amsterdamer Hinterhaus-Versteck verbrachten, unterstützt von wenigen Eingeweihten.

anne, theu boermans

Das Leben  auf engstem Raum ist nicht immer einfach.

 

Die 1:1 nachgebaute Häuserfront hebt, senkt und dreht sich. Erlaubt wie in einem Puppenhaus Einblicke auf verschiedenen Ebenen. Schildert den Alltag der Zweckgemeinschaft, der geprägt ist von der omnipräsenten Angst des Entdecktwerdens durch die Nazi-Schergen. Es sind Szenen grosser Intimität, aber auch kleinlicher Streitereien vor allem unter den Erwachsenen. Das gute Verhältnis Annes zum fürsorglichen Vater wird gezeigt (brillant: Paul R. Kooij), wie das Nichtauskommen mit der als kalt empfundenen Mutter.

… zur reifen jungen Frau

Und dann ist da das Ringen um das kleine Schreibtischchen zwischen Anne und einem später dazu gekommenen Mitbewohner. Dieses Tischchen, auf dem Anne ihre Gedanken und Erlebnisse ins innig geliebte Tagebuch schreibt. Man sieht sie nachgerade erwachsen werden vom unbeschwerten, vorlauten Mädchen zur nachdenklichen, aber lebenshungrigen jungen Frau. Als am Radio die Landung der Alliierten in der Normandie verkündet wird, begleitet von historischen Aufnahmen auf riesigen Leinwänden, sind Freude und Hoffnung gross – aber nicht für lange. In fast wortlosen Szenen folgen Verrat, Deportation und Tod im Lager Bergen-Belsen.

Zum Schluss führt der Weg ins Konzentrationslager (Bild Kurt van der Elst)

Zum Schluss führt der Weg ins Konzentrationslager.

 

Der Holocaust als Multimediaschau? Der Kommerzvorwurf (siehe Kasten) greift nicht nur zu kurz, er ist völlig daneben. Wenn man junge Leute abholen will, dann genau so. Das Produzenten-Duo Kees Abrahams und Robin De Levita inszenierte zusammen mit Regisseur Theu Boermans die einfach gestrickte Geschichte trotz viel Technik ohne Effekt­hascherei, dafür umso berührender. Seit Kurzem ist «Anne» auch für ein internationales Publikum interessant, wird es doch – via iPad am Sitzplatz – mit Simultanübersetzung in acht Sprachen, darunter Deutsch, angeboten. Wirklich nötig ist dies nicht, geht das Stück doch auch tief unter die Haut, ohne dass man jedes Wort versteht.

http://www.theateramsterdam.nl/de

 

Wem gehört Anne Frank?

Der Anne Frank Fonds in Basel ist von Annes Vater Otto Frank, der das Konzentrationslager als einziger der Familie überlebt hatte, mit edu­kativen Zielen gegründet worden. Leitgedanken des Fonds sind die Völkerverständigung und die Überwindung von Vorurteilen und Ras­sismus. Die Nonprofit-Organisation unterstützt mit den Einnahmen aus dem Verkauf des Tagebuchs von Anne Frank eine Vielzahl von Projekten weltweit.

Das im Amsterdamer Hafen realisierte neue Theater, in dem das vom Anne Frank Fonds initiierte Stück «Anne» derzeit läuft, liegt nur wenige Hundert Meter von jenem Haus entfernt, in dem sich die Familie Frank während mehr als zwei Jahren versteckt hielt. Dieses jährlich von gut einer Million Menschen besuchte Museum wird von einer Stiftung betrieben, die mit dem Basler Anne Frank Fonds über Kreuz liegt. Es geht letztlich um nicht weniger als die Deutungshoheit über Anne Frank. Oder anders gesagt um die Frage: Wem gehört Anne Frank eigentlich? Den Fonds-Verantwortlichen missfällt, dass das Holocaust-Opfer Anne im Haus an der Prinsengracht quasi zur Heiligen hochstilisiert wird. Umgekehrt stören sich die Museumsbetreiber an der Kommerzialisierung der Geschichte im neuen Theater. Die Besucher könnten sich mit Prosecco die Tränen über das traurige Schicksal des Mädchens wegspülen, hiess es etwa. (hb)

pdf Südostschweiz (07.08.2014)