Es war ein Musikjahr des entweder/oder – entweder haben mich komplexe Werke wie das Album «House Music» des Bell Orchestre eingenommen oder aber Songs mit Melodien zum Niederknien wie auf dem Album «Eiskeller» von Rover. Dazwischen gabs einige «Ausreisser», die anderswo zugeordnet werden müssen. Summa summarum bin ich froh, stilistisch mit sehr offenem Visier unterwegs zu sein – denn nur so kam wirklich eine Bestenliste zusammen. Anders gesagt: 2021 war alles andere denn ein Jahrhundert-Jahrgang, was Neuveröffentlichungen anbelangt. Dafür durfte man sich an Wiederveröffentlichungen erfreuen, die tontechnisch auf Vordermann gebracht oder aber mit Zusatzmaterial angereichert wurden. Nachfolgend meine Lieblingsmusiken in keiner speziellen, aber doch nicht ganz zufällig gewählten Reihenfolge.
Mario Batkovic, «Introspectio»
Er ist einer der Propheten, die im eigenen Land noch immer viel zu wenig gelten. Kein Wunder, ist die erste Besprechung des neuen Albums von Mario Batkovic in einem britischen Musikmagazin erschienen. Auf «Introspectio» ist der Berner nicht mehr allein mit seinem Akkordeon zu hören, sondern zusätzlich mit Elektronik, Schlagzeug und Chorälen. Batkovic kommt hier vor allem als Komponist zur Geltung. Die sechs Stücke entziehen sich jeder Kategorisierung, können allenfalls mit moderner Klassik, Minimal Music und Ambient verortet werden. Ein Trip in eine ureigene Musikwelt – atemberaubend in ihrer Dringlichkeit.
The Coral, «Coral Island»
Von all den Britpop-Bands der Neunzigerjahre und Anfang der Nullerjahre wie Blur, Oasis, Suede, Pulp, Supergrass ist ja nicht sonderlich viel übriggeblieben. Eine meiner liebsten dieser melodieseligen Bands waren immer The Coral. Dass sie nun gleich mit einem Doppelalbum aufwarten, auf dem sich eine Songperle an die andere reiht, ist die Überraschung des Jahres. Immer leicht psychedelisch angehaucht und von ausgemachter Jahrmarkt-Fröhlichkeit, sind die Lieder auf «Coral Island» ein einziges Hörvergnügen. Herausragend: «Vacancy» und «Faceless Angel».
The Weather Station, «Ignorance»
Es ist dies eine der Konsensplatten in den diesjährigen Bestenlisten der Musikkritik. Und das zu Recht. «Ignorance» ist grosse Songwriter-Kunst, Indie-Folk ohne Grenzen. Hinter The Weather Station steckt die Kanadierin Tamara Lindeman, die für die Aufnahmen zu diesem Album hochtalentierte Jazzmusiker um sich scharte. Um es mit dem deutschen «Rolling Stone» zu sagen: «Schönere, kunstvollere Lieder hat im Jahr 2021 niemand geschrieben.»
Moses Sumney, «Live From Blackalachia»
Es gibt ja schon Spinner unter den musikalisch Kreativen. Ohne eine gewisse Spinnerei würden bestimmte Werke wohl Mittelmass bleiben. Mittelmass kennt der ghanaisch-amerikanische Sänger Moses Sumney nicht. Quasi zur Veredelung einzelner Songs aus seinen ersten beiden Alben ist er samt sieben Begleitern ist die Blue Ridge Mountains gefahren und hat im Grünen eine Livescheibe eingespielt. Wobei man die sprichwörtlichen Grillen nur selten zirpen oder die Bächlein rauschen hört. Stattdessen spielt die Crew einen hochenergetischen Neo-R’n’B. Das Ganze gibt es nicht nur als Album, sondern auch als (gratis) Musikfilm auf Youtube.
Low, «Hey What»
Ja, genau, das ist diese Art Musik, bei der man sich erstmal vergewissern muss, ob die Boxen noch richtig angeschlossen sind. Denn der Low-Sound ist Noise und Rauschen, Repetition und Verzerrung bis zur Schmerzgrenze. Aus kalter Elektronik steigen engelsgleich Hymnen empor. Das US-amerikanische Duo schafft es, mit «Hey What» gleichzeitig abzuschrecken und die Hörerschaft dann doch den Repeat-Knopf drücken zu lassen. So gut zu altern und sich nebenbei immer wieder neu zu erfinden, möchte man manch anderer Band auch wünschen.
Bell Orchestre, «House Music»
Mit House als Musikstil hat dieses Werk nicht viel zu tun. Dafür mit einem Haus im wahrsten Sinne des Wortes: In jedem Zimmer, auf jedem Stockwerk wird musiziert. Es ist ein einziger grosser Strom von Improvisationen über nur minim sich ändernde Rhythmus- und Harmoniemuster. Das kanadische Kollektiv – mit Mitgliedern von Arcade Fire – bringt klassische und elektronische Elemente zusammen. Das Ganze war in weniger als eine Woche im Kasten. Und erinnert an die besten Zeiten von Jams, die (gefühlt) stundenlang dauerten. Aber im besten Fall mit keiner Sekunde langweilig wurden.
Black Country, New Road, «For The First Time»
Es ist die Band, die ich am dringlichsten live sehen möchte – ob und wie die Jungspunde im besten Studentenalter ihre jazzigen Postrock-Kreationen auf der Bühne allenfalls nochmal auf den Kopf stellen. Von Youtube-Videos weiss man, dass sie recht stoisch ans Werk gehen, und auch wenns kracht und fetzt und hochkomplex zu und her geht kaum ein Bandmitglied mit der Wimper zuckt. Black Country, New Road haben ihre Sounds perfektioniert, bevor es ans Debütalbum ging. Ein selten reifer Erstling, ein zweites Album ist bereits angekündigt.
Jah Wobble, «Metal Box – Rebuilt In Dub»
Die «Metal Box» war 1979 das zweite Album der legendären britischen Formation Public Image Ltd. Es erschien in limitierter Auflage tatsächlich als graue Filmdose. Musikalisch war es eher schwer verdaulicher, experimenteller (Kraut-)Rock mit Sänger John Lydon, der seine Vergangenheit als Frontmann der Punk-Vorreiter Sex Pistols hinter sich lassen wollte. Der Bassist von damals, Jah Wobble, hat das Ganze gut 40 Jahre später durch den Dub-Wolf gedreht, grossmehrheitlich ohne Gesang, aber mit der ganzen Wucht und Wut, die jenem Werk schon damals innewohnte.
Rover, «Eiskeller»
Was hat ein Album auf dieser Liste zu suchen, das zuerst einmal getadelt werden muss für seine billige Machart (das Schlagzeug aus dem Computer ist schrecklich; und falls es doch ein richtiges Drum sein sollte, noch schrecklicher)? Auch die anderweitige Instrumentierung und die Arrangements sind… na ja. Aber: Die süsslichen Melodien bestätigen, was in diesem französischen Musiker steckt – ein Melancholiker vor dem Herrn, der in der Regel den richtigen Ton trifft. In diesem Sinne seien die coronabedingten Umstände entschuldigt. Und es sei das genossen, was die Essenz dieser Homerecording-Aufnahme ist – wunderbare, stimmige Lieder.
Rodney Crowell, «Triage»
Seit die Coronazahlen in die Höhe schnellen, weiss jedes Kind, worum es beim Thema Triage geht. Dass das neue Album von Rodney Crowell «Triage» heisst, hat damit zwar nur sehr bedingt zu tun, kommt aber gleichwohl nicht von ungefähr. Beim amerikanischen Countrymusiker sind es die Auswahlkriterien des Lebens – mit Leid und Trauer am einen und himmelhochjauchzender Freude am anderen Ende der Skala. Wobei Crowell zu Ersterem tendiert. Und das mit wohlgefälligen, die oft düsteren Texte geradezu konterkarierenden Weisen in allerbester Americana-Manier. Ein ganz grosses Alterswerk.
Ebenfalls gern und häufig gehört habe ich (in alphabetischer Reihenfolge):
Aaron Frazer («Introducing…»)
Aaron Lee Tasjan («Tasjan! Tasjan! Tasjan!»)
Angelo Repetto («Sundown Explosion»; EP)
Arlo Parks («Collapsed In Sunbeams»)
Black Keys («Delta Kream»)
Cassandra Jenkins («An Overview On Phenomenal Nature»)
Cathal Coughlan («Song Of Co-Aklan»)
Dean Wareham («I Have Nothing To Say To The Mayor Of LA»)
Dennis Bovell meets Dubblestandart («Repulse ‘Reggae Classics’»)
Elbow («Flying Dream 1»)
Endless Boogie («Admonitions»)
Gabriels («Bloodline» und «Love And Hate In A Different Time»; zwei EPs)
Godspeed You! Black Emperor («G_d’s Pee At State’s End!»)
International Music («Ententraum»)
LaBrassBanda («Yoga Symphony No.1»)
Les Yeux D’La Tête («Bonne Nouvelle»)
Limiñanas/Garnier («De Película»)
Lorde («Solar Power»)
Lost Horizons («In Quiet Moments»)
Manu Delago («Environ Me»)
Margo Cilker («Pohorylle»)
Muse («Origin Of Symmetry – XX Anniversary RemiXX»)
Neil Young & Crazy Horse («Way Down In The Rust Bucket – Live»)
Robert Finley («Sharecropper’s Son»)
Rogér Fakhr («Fine Anyway»)
Sault («Nine»)
Sons Of Kemet («Black To The Future»)
Tony Joe White («Smoke From The Chimney»)
Trees Up North («Trees Up North»)
The Legendary Lightness («Bis doch froh»)
Tindersticks («Distractions»)
U-Roy («Solid Gold»)
Vanishing Twin («Ookii Gekkou»)
Xixa («Genesis»)
Ich stimme Ihrem Kommentar zum Teil zu, aber persönlich finde ich das dritte Album von Rover, Eiskeller, wirklich gelungen und einfach wunderschön, und zwar nicht nur wegen der schönen Melodien, des herzbewegenden Gesangs, der tollen Stimme mit so vielen Nuancen, oder der poetischen Texte, sondern auch deswegen, weil allein die Aufnahme dieser 13 Songs eine riesiege Herausforderung war.
Rover hat nämlich ganze 14 Monate allein in einem ehemaligen brüsseler Kühlhaus verbracht (daher der Titel des Albums), in einem riesigen Raum (300 Quadratmeter, 8 Meter hohe Decke) wo es keine Fenster, keine Heizung und gerade mal 3 Steckdosen gab. Dieser Raum eignete sich mit seinem unheimlichen Hall und seiner niedrigen Temperatur (zwischen 8 und 12 Grad) wohl kaum als improvisiertes Tonstudio. Rover brauchte deshalb 6 Monate, um überhaupt zu begreifen, was er da tat, und wie er den Ton überhaupt bändigen konnte, denn er hat nämlich alles allein aufgenommen, ohne Toningenieur und trotz fehlendem Material.
Er musste mit dem, was er hatte, einfach improvisieren. Weil ihm ein Mikrofon fehlte, hat er zum Beispiel den Song „Cold and tired“ mit einer Autotune-App auf seinem Smartphone aufgenommen. Akustikplatten, die er eines Morgens aus dem Müllcontainer fischte und reparierte, halfen ihm, eine Nische zu kreieren, in der er das Schlagzeug überhaupt aufnehmen konnte. Alle Instrumente spielte er selber, ob Mellotron, Klavier, Orgel, Schlagzeug, Bass-Gitarre, E-Gitarre oder akustische Gitarre. Gemixt hat er das ganze auch noch zum größten Teil selber im Studio ICP in Brüssel.
Deshalb muss man bei dieser Platte einfach über die technischen Mängel hinwegschauen (oder hinweghören) und Rover für seine Kreativität, seinen Mut, seine Ausdauer, und seine Leidenschaft für Musik loben.
Wer würde es heute sonst noch wagen, in so schrecklichen Bedingungen so eine Platte entstehen zu lassen? Aus dem Nichts Songs zu kreieren, die trotz technischer Mängel das Herz der Hörer bewegen und für ihre Ohren wie Balsam klingen? Wohl kaum einer! Allein dafür verdient er höchsten Respekt. Diese Platte ist auch ein Akt des Widerstands und der schönste Beweis, dass alles möglich ist, wenn man alles dran setzt, seine Ziele zu erreichen, und dass die Liebe einem Flügel verleihen kann…
Und wer Rover schon auf der Bühne erlebt hat, weiß, wie unglaublich gewaltig seine Songs live klingen können, und dass seine Musik eine magische Reise in eine andere Dimension ist.
Mich persönlich berührt seine Musik zutiefst, weil sie nicht auf Technik beruht, sondern auf Emotionen, die echt und authentisch sind. Seine Songs ähneln dem Mann, der sich hinter dem Bühnennamen Rover versteckt, und mit dem ich das große Glück hatte, mehrmals ein paar Worte zu tauschen: unheimlich talentiert und doch so bescheiden, schüchtern und dennoch so lustig, warmherzig und sensibel, ein Riese, der hinter der rauhen Schale ein großes Herz versteckt: und das ist es, was seine Musik so besonders und wertvoll macht, weil all diese menschlichen Eigenschaften sich darin widerspiegeln. Für mich ist er wirklich ein rauher Diamant, und rauhe Diamanten sind mir in der Musik lieber als billiger Glitterschmuck.
PS: Tut mir leid, wenn ein paar Fehler sich bei meinem Kommentar reingeschlichen haben. Ich schreibe nämlich aus Frankreich und Deutsch ist nicht meine Muttersprache.
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Herzlichen Dank für diese Rückmeldung. Freut mich sehr, dass Rover Ihnen auch ans Herz gewachsen ist. Ich habe ihn zuletzt am Paléo Festival 2012 in Nyon live gesehen – ein Erlebnis! Dass die Aufnahmen zu diesem Album speziell waren, hat man hier in der Schweiz leider nicht so richtig mitbekommen – ich kann es mir aber vorstellen nach Ihren Schilderungen! Danke nochmals für Ihre Zeilen!
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