Sounds, die ans Lebendige gehen

Anohni hat mit einem grossartig verstörenden Auftritt das 50. Montreux Jazz Festival eröffnet. Mehr davon ist durchaus erwünscht.

Von Hans Bärtsch

Am Anfang ist weisses Rauschen, Endlos-Loops aus dem Computer. Schier endlos dauert dann auch der «Tanz» des britischen Models Naomi Campbell auf Grossleinwand. Mehr als Soundfetzen sind immer noch nicht zu hören. Erste Pfiffe aus dem Publikum. Wo befinden wir uns überhaupt? In einem Kerker? In einem Luftschutzbunker? An einem Ort jedenfalls, wo mehr Leid als Freude ist. Wo grelle Scheinwerfer für Unbehagen sorgen (noch mehr irritiert allerdings die Sonne, die an diesem wunderschönen Freitagabend in Montreux bis in den Stravinski-Saal dringt).

Anohni

Hoffnungsvoll, nicht hoffnungslos: Anohni am 1. Juli 2016 am Montreux Jazz Festival. (Bild Lionel Flusin)

Nach knapp einer halben Stunde ist sie, die man früher als Antony Hegarty von Antony And The Johnsons kannte, dann endlich da: Anohni. Und beginnt mit der Präsentation von «Hoplessness», dieses im Bereich Soul-durchflutete elektronische Musik wohl faszinierendsten Albums, das dieses Jahr bis dato veröffentlicht wurde. Es ist ein Werk von grosser Düsternis, geht es inhaltlich doch um Themen wie Überwachung, Drohnen-Kriege, Umweltzerstörung. Ein später Ausfluss von 9/11 quasi – jener Terroranschläge, die die Welt komplett veränderten.

Gesichter in allen Farben

Die süssliche Stimme Anohnis legt sich über die von zwei Musikern auf allerlei elektronischem Equipment erzeugten, kristallklaren Sounds. Sie selber ist, den ganzen Körper verhüllt, nur als Schatten wahrnehmbar. Stattdessen ziehen Gesichter in Grossaufnahme die Aufmerksamkeit auf sich. Geschundene Gesichter, und wunderschöne. Alte und junge. Schwarze, weisse und andersfarbige. Manche mit Blut verschmiert – sie erinnern an Zombies. Sie alle bewegen ihre Lippen synchron zu den Liedtexten, brechen dabei an manchen Stellen in Tränen aus.

Der Sog, den diese Gesichter ausüben, ist unglaublich. Nicht hoffnungslos, wie der Albumtitel besagt, sondern hoffnungsvoll. Sie sagen: Wir alle sind Menschen. Und etwas mehr Menschlichkeit – welche Binsenweisheit – stünde der Welt in jeder Beziehung gut an. Ob Anohni das auch so meint, ist eine andere Frage. Denn ausgerechnet die Schöpferin dieses aussergewöhnlichen Werkes entzieht sich mit ihrer Verhüllung der Sympathienahme. Stattdessen ein mehrfach wiederholtes «I’m sorry» zum Schluss. Wofür? Für ein aufrüttelndes Statement zugunsten von mehr Empathie? Geschenkt. Danke für diesen ergreifenden Auftritt, danke für Sounds, die mehr sind als bloss ein Unterhaltungsfaktor.

Air mit luftig-leichtem Pop

Bewundernswert, dass das Montreux Jazz Festival mit einem solch (positiv) verstörenden Act ins 50-Jahr-Jubiläum startet. Der Mainstream wird dann gleich im Anschluss bedient: Das französische Duo Air (hier auf vier Mann erweitert) bringt in weissen Anzügen luftig-leichten Pop zu Gehör – ein Best-of-Programm von «La femme d’argent» bis «Sexy Boy». Zuckerwatte-Musik aus einer anderen Ära, als Easy-Listening kurzzeitig das ganz grosse Ding waren. An diesem speziellen Eröffnungsabend lässt man sie sich indes gerne gefallen. Auch, um wieder Runterzukommen von den grossen Gefühlswallungen, für die Anohni davor gesorgt hat.

Air

Luftig-leichter Pop: Air am 1. Juli 2016 am Montreux Jazz Festival. (Bild Lionel Flusin)

Ein paar Stockwerke tiefer ist derweil DJ Shadow zugange. Sein wegweisendes Album «Endtroducing» ist mit Jahrgang 1996 noch zwei Jahre älter als Airs ebenso bahnbrechendes «Moon Safari». Und es hat etwas Trauriges, wenn der amerikanische Hip-Hop-Zerstückler bloss für – neu remixte – Auszüge aus diesem Erstling Applaus erhält. Wie wenn er seither nichts mehr geleistet hätte. Na ja, seien wir ehrlich: Viel Substanzielles war da tatsächlich nicht mehr.

Helden von früher und morgen

Helden von früher, die Avantgarde von heute (und damit vielleicht die Stars von morgen): So präsentiert sich das Programm des 50. Montreux Jazz Festival, das nun in vollem Gang ist. Die eigentliche Eröffnung findet schon am Donnerstag vergangener Woche im Casino, dem ehemaligen Festivalort, statt – mit einem Auftritt des Saxofonisten Charles Lloyd, des Headliners des allerersten Festivals. Auch Bundesrat Alain Berset lässt sich dem Vernehmen nach vom unverändert quirligen Jazz des Altmeisters und dessen exquisiten jungen Begleitern mitreissen.

Da wagen sich Künstler auch mal aus ihrer Komfortzone raus. Die Gefahr des Scheiterns auf hohem Niveau inklusive. Bitte mehr davon.

Muse au Montreux Jazz Festival

Exklusive Setlist: Muse am 1. Juli 2016 am Montreux Jazz Festival. (Bild Lionel Flusin)

Am Samstag will das britische Rocktrio Muse dem Festival dann wohl eine besondere Ehre antun, als es gleich mehrere Songs spielt, die eigentlich nicht zum Repertoire der laufenden Drones World Tour gehören. Die Folge ist ein eher unausgegorenes Programm ohne Spannungsbogen. Etwas, das man von Muse nicht gewohnt ist. Aber so ist das in Montreux: Da wagen sich Künstler auch mal aus ihrer Komfortzone raus. Die Gefahr des Scheiterns auf hohem Niveau inklusive. Bitte mehr davon.

 

Muse-Setlist sorgt für heftige Diskussionen auf Social Media

Der Auftritt von Muse am Montreux Jazz Festival sorgte noch Tage danach für eifrige Diskussionen in den sozialen Medien. Ein Thema war die relativ kurze Spieldauer von knapp 90 Minuten (es gab kein Vorprogramm). Zur Hauptsache gab aber die Setlist zu reden. Diese enthielt etliche, live selten gespielte «Raritäten». Fans beklagten sich, weshalb Muse ausgerechnet an diesem Auftritt mit begrenzter Platzzahl ein so exklusives Programm zum Besten gaben. Muse-Sänger Matt Bellamy begründete auf Twitter, die Band wollte etwas Spezielles bieten, da sie gleich dreimal in der Schweiz auftreten würden diesen Sommer (nach Montreux noch auf dem Berner Gurten sowie am Paléo-Festival in Nyon. (hb)

 

Video-App Cuts wird rege genutzt – wenn man sie nutzen kann

In Sachen Technik ist Montreux seit Anbeginn ein Vorreiter-Festival. Neu in diesem Jahr ist eine App namens Cuts, welche es erlaubt, mit dem Smartphone 30 Sekunden aus den offiziellen Aufnahmen des Festivals aufzunehmen und in sozialen Netzwerken zu teilen beziehungsweise als SMS oder per Mail zu verschicken. Diese in Zusammenarbeit mit der Firma Kudelski entwickelte App soll die eigene Smartphone-Filmerei überflüssig machen. Das dürfte Künstler wie Adele freuen, die sich erst kürzlich wieder kritisch gegenüber Smartphone-Aufnahmen an Konzerten zeigte. Am ersten Montreux-Wochenende wurde die App jedenfalls schon rege genutzt – wenn es denn ging. Aus urheberrechtlichen Gründen liess sich nämlich längst nicht jeder Auftritt «mitschneiden». (hb)

pdf Südostschweiz (4.7.16)

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