Das Beste 2019 – TONTRÄGER

Wie immer gegen Ende Jahr haben sich an die 50 potenzielle «Alben des Jahres» angesammelt. Beim nochmaligen Hören und Asortieren zeigt sich, die persönlichen Top 10 zusammenzustellen ist einfacher als gedacht. Weil: Etliche Werke sind nur kurzfristige Strohfeuer. Was überdauert, sind möglicherweise einzelne Songs daraus. Was mir das Leben in Sachen Best-of-Listen erschwert, ist ein relativ breiter Musikgeschmack. Aber hey, das Leben ist zu kurz, um nur einspurig unterwegs zu sein. In diesem Sinn: Viel Spass beim Stöbern. Erstmalig auch durch empfehlenswerte Spotify-Playlists.

STEPHAN EICHER, «Homeless Songs»
Sozusagen das Comeback-Album des Stephan Eicher nach schwierigen Jahren im Clinch mit seiner Plattenfirma. Wie wenn sich der Veröffentlichungsstau direkt auf die Qualität der neuen Kompositionen ausgewirkt hätte. Ein unglaublich reife, stimmige, berührende Liedsammlung. Aufgenommen mit bescheidenen Mitteln, das Piano steht oft im Zentrum, Streicher sorgen für wohlige Wärme. Und dann ist da diese einnehmende Stimme, meist auf Französisch oder in Mundart. Chapeau!

Stephan Eicher, «Si tu veux (que je chante)»

FÖLLAKZOID, «I»
Was die Zählweise ihrer Alben anbelangt, sind die Chilenen (inzwischen nur noch ein Duo) komische Gesellen. Ihr vierter Longplayer trägt die Nummer 1. Die vier Stücke darauf sind zwei Mal 13 und zwei Mal 17 Minuten lang, alles in allem also exakt eine Stunde. Es ist eine Mischung aus Krautrock-, Trance- und Psychedelic-Elementen. Monoton pulsierende Beats treiben die Musik von Föllakzoid maschinenartig voran. Stück Nummer 4, «IIII» genannt, ist der Höhepunkt. Davon gibts inzwischen einen noch fast empfehlenswerteren Remix von DJ Nobu.

Föllakzoid, «I» (Full Album)

MOTORPSYCHO, «The Crucible»
Bleiben wir bei Musik, die seitens der Zuhörerschaft einen etwas längeren Atem benötigt. Das titelgebende dritte Stück der norwegischen Psychedelic-Rocker dauert gute 20 Minuten und ist eine Wall of Sound, gemauert vorwiegend aus Gitarren, mehrstimmigem Gesang und Schlagzeug. Genre-mässig gehts bei Motorpsycho kreuz und quer, auch mal Richtung Jazz, was an die Progrock-Grössen King Crimson erinnert. Hier begegnen sich die beiden Bands auf Augenhöhe, wobei Motorpsycho natürlich die gröbere Klinge schwingen.

Motopsycho, «The Crucible»

ALPINIS, «2019»
Abrupter Stilwechsel. Zugegeben, diese Wahl ist stark beeinflusst vom diesjährigen Alpentöne-Festival in Altdorf mit wunderbaren Begegnungen blutjunger MusikerInnen, die das Volksliedgut mit der Muttermilch aufgesogen haben und es nun weiterentwickeln. Bei den Alpinis handelt es sich um die Volksmusik-Formation der Hochschule Luzern. Und da sind die Besten der Besten mit dabei, was die instrumentalen, jodlerischen und/oder kompositorischen Fähigkeiten anbelangt. Juhee!

Alpentöne 2019 (Impressionen)

CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL, «Live At The Woodstock Music Art & Fair 1969»
Dies ist die wohl unerwartetste Veröffentlichung des Jahres. Man erinnere sich: CCR, so der Kurzname der Band, entschieden sich nach dem Woodstock-Festival gegen eine Veröffentlichung ihres Auftritts – aus Qualitätsgründen. Dabei befanden sich die Mannen um John Fogerty auf dem Höhepunkt ihrer Schaffenskraft. Oder kann man sich allein die bluesige Nummer «The Night Time Is The Right Time» in einer intensiveren Live-Variante vorstellen? Eben.

CCR, «Suzie Q»

LEONARD COHEN, «Thanks For The Dance»
Nachträglich muss man jener Managerin (und Kurzzeitgeliebten), die Leonard Cohen fast in den Ruin getrieben hatte, dankbar sein. Denn nur dadurch ging der kanadische Singer/Songwriter und Poet 2008 wieder auf Tour. Und hörte bis in sein Todesjahr 2016 nicht auf zu touren und neue Platten aufzunehmen.  Dies ist sein Abschiedswerk, vollendet unter anderem von Sohn Adam Cohen. 29 Minuten kurz, sind die neun Songs weit mehr als Restposten aus dem Vorgänger-Album «You Want It Darker». Im Gegenteil: Es ist dies ein sehr würdiger Schlusspunkt. Hallelujah!

Leonard Cohen, «Thanks For The Dance»

WEYES BLOOD, «Titanic Rising»
Natalie Mering, die sich Weyes Blood nennt, punktet auf einem Feld, das weitgehend verwaist und zurzeit auch nicht besonders en vogue ist: schmachtenden Balladen in Orchester-Opulenz, wie man sie ansonsten aus Musicals kennt. «Andromeda» ist dabei die über alles ragende Nummer. Aber auch ansonsten hat die amerikanische Indie-Folk-Musikerin ein aussergewöhnliches Händchen für Ohrwürmer.

Weyes Blood, «Titanic Rising» (Full Album)

MICHAEL KIWANUKA, «Kiwanuka»
Wow! Wie kann man im Jahr 2019 bloss exakt so klingen wie die Soul-Grössen der Siebzigerjahre. So funky, mit tonnenweise Backgroundchören, aber auch im Gospel und Afrobeat verhaftet. Selbst Psychedelic-Rock ist für Michael Kiwanuka kein Fremdwort. Der eine oder andere Kritikaster hat dem Briten das Fehlen eines eindeutigen Hits vorgeworfen. Dabei ist das ganze Album ein einziger Hit – in Endlosschlaufe gewinnt es mit jedem Umgang an Format dazu.

Michael Kiwanuka, «Hero»

LES YEUX D’LA TÊTE, «Murcielago»
Aus dem Worldmusic-Bereich haben es mir dieses Jahr diverse Franzosen angetan. Unter anderem dieses Pariser Sextett, das sich federleicht zwischen Chanson, Jazz, Balkanbeat und Swing bewegt. Mal melancholisch, mal himmelhoch jauchzend, immer hoch melodisch und mitreissend. Live sollen Les Yeux D’La Tête ein Ereignis sein, wird erzählt. Dieses Erlebnis suche ich im Frühjahr 2020 nachzuholen, wenn die Band einige vom Herbst verschobene Konzerte unter anderem in Deutschland gibt.

Lex Yeux D’La Tête, «Demain»

STEVE GUNN, «The Unseen In Between»
Die Gitarre ist ja nicht gerade das angesagteste Instrument in der populären Musik dieser Tage. Da kommt ein Steve Gunn gerade recht, der akustische und elektrische Sechssaiter aus dem Effeff beherrscht. Aber nicht im Sinne von Protzerei mit endlosen Soli, sondern im Dienste grosser Songs mit eigener Handschrift. Es ist noch nicht ganz alles Gold was glänzt beim amerikanischen Singer/Songwriter. Aber allein «New Moon» ist der Einzug in diese Top 10 wert.

Steve Gunn, «New Moon»

 

Diese Alben haben mir 2019 ebenfalls gut bis sehr gut gefallen (in alphabetischer Reihenfolge): «Anima Migrante» von Almamegretta, «The Oracle» von Angel Bat Dawid, «Tall, Dark & Handsome» von Delbert McClinton«Badbea» von Edwyn Collins, «Giants Of All Sizes» von Elbow, «I Fucking Love My Life» von Faber, «Serfs Up!» von Fat White Family, «Levitation» von Flamingods, «Steady As We Go» von Hank Shizzoe, «Median Age Wasteland» von Hawksley Workman, «If I Think Of Love» von Hochzeitskapelle, «Varda» von Hugar, «Free» von Iggy Pop, «Love Is» von Jungstötter, «Oh My God» von Kevin Morby, «Norman Fucking Rockwell» von Lana Del Rey, «The Livelong Day» von Lankum, «Stars Are The Light» von Moon Duo, «Purple Mountains» von Purple Mountains, «2020» von Richard Dawson, «Dini zwei Wänd» von Stahlberger, «Encore» von The Specials, «The Quiet Temple» von The Quiet Temple, «Data Mirage Tangram» von The Young Gods, «No Treasure But Hope» von Tindersticks, «Fear Inoculum» von Tool.

Sampler/Soundtracks/Playlists (ohne spezielle Reihenfolge):
«Pay It All Back Vol. 7» (Fortsetzung der legendären On-U-Sound-Compilationreihe mit neuen Adrian-Sherwood-Produktionen)
«Origins Of Muse» von Muse (die ersten beiden, wegweisenden Alben des britischen Progrock-Trios plus Demos, EPs, B-Seiten, Live-Aufnahmen usw. in einem opulenten Boxset)
«Killing Eve» (der Soundtrack zu dieser grossartigen TV-Serie – bisher zwei Staffeln – in Form einer Spotify-Playlist)
«The End Of The F***ing World» (auch von dieser TV-Serie gibts bisher zwei Staffeln; der ehemalige Blur-Leadgitarrist Graham Coxon hat dafür den ebenso irren Soundtrack geschaffen; auf Tonträger erhältlich)
«Godfather Of Harlem» (noch eine TV-Serie, die mich nicht zuletzt wegen der Musik aus den Socken gehauen hat; als leider erst recht lückenhafte Playlist auf Spotify zu finden, auf Tunefind.com gibts immerhin Angaben zu einzelnen Songs und Soul-SängerInnen)
Lee «Scratch» Perry: «Heavy Rain» (die Dub-Variante des bereits sehr guten Albums «Rainford» vom letzten Frühling; bei beiden hatte, s. oben, Adrian Sherwood die Finger im Spiel)
Various Artists: «Fragments Du Monde Flottant» (von Devendra Banhart compilierte Sammlung von Demos einiger seiner musikalischen FreundInnen, z.B. Vashti Bunyan, Helado Negro, Nils Frahm, Arthur Russell)

 

Das Beste 2016 – TONTRÄGER

2016: Ein Jahrgang, der es in sich hatte. Reden wir nicht von Politik, sondern von Kunst und Kultur. Musikalisch äusserst ergiebig, wenn man seine Ohren in alle Richtungen offen hat(te) – was ja in Zeiten des Internets nicht so schwierig ist. Hier meine Top Ten mit einer klaren Nummer 1.

MARLON WILLIAMS – «Marlon Williams»
Ein Album, das für mich seit seinem Erscheinen vor knapp einem Jahr den Tag beschliesst. Jeden Tag. Keine andere Musik habe ich also öfters gehört 2016. Warum, kann ich allerdings bis heute nicht richtig in Worte fassen. Sicher ist es die unglaubliche Stimme des 26-jährigen Neuseeländers, die melodieseligen Lieder, die in starkem Kontrast stehen zu den dunklen Inhalten. Es ist, wie wenn sich Chris Isaak mal wieder am Riemen gerissen hätte für einen durchgehend guten Longplayer, oder Rufus Wainwright sich stilistisch nicht in alle Himmelsrichtungen verzetteln würde. Williams‘ Musik bewegt sich im weiten Americana-Feld, bedient sich des Sixties-Folk, spielt mit Bluegrass, Country, Rock’n’Roll. Ist aber vor allem eines: einfach unglaublich schön.

DAVID BOWIE – «Blackstar»
Die Konsensplatte des Jahres, die in keiner Bestenliste fehlt. Auch der traurige Umstand, dass deren Erschaffer nur zwei Tage nach dem Erscheinungstermin verstarb, schmälert die Qualität in keiner Weise. Verwandlungskünstler David Bowie hat sich mit «Blackstar» nochmals neu erfunden. Sich mit einer Jazzband zusammengetan, um einen düsteren, sperrigen Klangkosmos zu kreieren. Ein letzter Höhepunkt in der Karriere dieses Jahrhundertmusikers.

QUANTIC PRESENTA FLOWERING INFERNO – «1000 Watts»
Viele könnens ja nicht so mit Dub – zu eintönig, langweilig. Sage das einer von diesem Album! Der Engländer Will Holland, der hinter dem Namen Quantic steckt, hat mit Hilfe von Reggae-Koryphäen wie dem Bob-Marley-Schlagzeuger Carlton «Santa» Davis oder Sängerin Hollie Cook eine unglaublich groovende, abwechslungsreiche Scheibe aufgenommen. Das rührt vor allem daher, dass Holland ein stilistischer Grenzgänger ist, der sich unter anderem auch in allen möglichen Latino-Spielarten auskennt. «1000 Watts» ist der dritte Teil des Projekts «Flowering Inferno», das dem Dub eine kräftige Blutauffrischung beschert.

ORKESTA MENDOZA – «¡Vamos A Guarachar!»
Um beim Thema Grenzgänger zu bleiben – auch Sergio Mendoza ist ein solcher. Er hat mexikanische Spielarten wie Cumbia mit der Muttermilch aufgesogen. Und sich dann irgendwann in den USA mit dem Rock’n’Roll angefreundet. Das Resultat ist etwas vom Heissesten, was derzeit aus jener musikalischen Weltecke ertönt. Mitglieder von Calexico haben Hand angelegt bei diesem Album. «¡Vamos A Guarachar!» enthält schmalztriefende Balladen und pulsierende Hymnen. Musik, die Freude bereit, nicht mehr, und nicht weniger. Sehr grosse Freude.

MOP MOP – «Lunar Love»
Jede Musik hat ihre Wirkung. Was auf diesem Album ertönt, hat etwas zutiefst Meditatives, auch wenn es mal funky-jazzig abgeht. Der Italiener Andrea Benini, der hinter dem Projekt Mop Mop steckt, hat ein fantastisches Händchen für entspannte, aber immer spannende Downtempo-Stimmungen. Für Musik mit Wirkung eben.

CHILDISH GAMBINO – «Awaken, My Love!»
Es gibt wegweisende Alben, die kurz vor Jahresende veröffentlicht werden, und deshalb durch alle Jahresbestenlisten rasseln. Dies hier ist so eines. Donald Glover, der Kopf hinter Childish Gambino, ist ein künstlerischer Tausendsassa: Schauspieler, Comedian, Drehbuchautor, Regisseur, Rap-Musiker (Quelle: Wikipedia). Wie D’Angelo geht Glover mit dem Projekt Childish Gambino als Neuerer in Sachen Black Music durch. Bereits die Eröffnungsnummer «Me And Your Mama» ist ein Song von übergrosser Strahlkraft.

CHRIS ROBINSON BROTHERHOOD – «Anyway You Love, We Know How You Feel»
Während mich Ryley Walker mit seinem Zweitling nicht mehr zu überzeugen vermochte, sprang Chris Robinson Brotherhood in die sich auftuende Lücke des psychedelisch angehauchten Sixties-Rock. Wobei: Retro ist da gar nichts. Vielmehr ist «Anyway You Love…» ein unglaublich entspanntes, zeitloses Stück Musik mit richtigen Rockgitarren und Harmoniegesängen à la Crosby, Stills, Nash & Young. Ach ja: Chris Robinson Brotherhood ist eigentlich nichts anderes als ein neuer Name für Black Crowes. Erinnert sich jemand? Ach ja zum Zweiten: Wems gefällt, der lasse sich auch die nachgeschobene EP «If You Lived Here, You Would Be Home By Now» nicht entgehen.

RADIOHEAD – «A Moon Shaped Pool»
Zerrissen, ekstatisch, wie ein Feuerwerk, das im- statt explodiert. Irgendwie hatte die neue Radiohead-Scheibe nach Erscheinen nur eine kurze Halbwertszeit auf meiner Playlist. Beim Wiederhören zum Jahresende zeigt sich jedoch – das ist eines der besten Alben überhaupt dieser britischen Überrocker.

JAMES – «Girl At The End Of The World»
Um auf der Insel zu bleiben: Die Band James ist eines der letzten Überbleibsel der Madchester-Szene. Eine Institution. Und nach wie vor in alter Frische unterwegs, gerade auch, was ihre Liveauftritte anbelangt. «Girl At The End…» ist bei weitem nicht das beste Werk von James, aber immer noch eine erfreulich treibende, an leider vergangene Zeiten (auch des Britpops) erinnernde Songsammlung.

IGGY POP – «Post Pop Depression»
Punkig-wütender trifft Stoner-Rock. Unter Mithilfe von Mitgliedern der Queens Of The Stone Age ist Iggy Pop ein äusserst poppiges Album gelungen, und das im positivsten Sinn. Jeder Song kommt wie aus Stein gemeisselt daher, Hookline reiht sich an Hookline. Da ist nichts zu viel oder zu wenig, sondern genau so, wie es sein muss. Mit jedem Hören wird «Post Pop Depression» etwas mehr zu meiner liebsten Iggy-Pop-Scheibe überhaupt.

Weiters sehr gut gefallen haben mir 2016 folgende Alben (leider ohne Schweizer Beteiligung): «Love & Hate» von Michael Kiwanuka, «Hopelessness» von Anohni, «The Hope Six Demolition Project» von PJ Harvey, «Holy Cow» von Dub Dynasty, «You Want It Darker» von Leonard Cohen, «The Musical Mojo Of Dr. John» von Dr. John mit Gästen, «Night Thoughts» von Suede, «Blue And Lonesome» von Rolling Stones, «We Got It From Here… Thank You 4 Your Service» von A Tribe Called Quest, «City Sun Eater In The River Of Light» von Woods, «Floating Harmonies» von Júníus Meyvant, «Alles nix Konkretes» von AnnenMayKantereit, «Island Songs» von Ólafur Arnalds, «Ina Forsman» von Ina Forsman, «Amore meine Stadt (live) von Wanda.